Kommentar von Rainer Kaufmann, Herausgeber und Redakteur der Kaukasischen Post, zur Kundgebung der Opposition
Wer über zwei Jahrzehnte hinweg viele Demonstrationen in der georgischen Hauptstadt verfolgen durfte, traute am 27. Mai kaum seinen eigenen Augen. Rund 100.000 Menschen auf der Straße, so viel wie wohl niemals zuvor in der neueren georgischen Geschichte, und keine einzige Provokation, kein Zwischenfall, keine Schlägerei. Keine Machtdemonstration der Staatsorgane, denen die politische Botschaft dieses Tages alles andere als angenehm war. Keine tumbe Aggressivität bei der Opposition, wie man sie vor allem in den letzten fünf Jahren immer wieder beobachten musste. Keine inszenierten Zwischenfälle als propagandistisches Futter für die allzeit bereiten – oder sogar am richtigen Ort bereit gestellten – TV-Kameras. Dafür eine friedliche, zivilisierte Massen-Kundgebung, bei der es allen Beteiligten um das „pro“ ging, um die Unterstützung eines Kandidaten, der de facto noch nicht einmal einer ist, und seiner Koalition, nicht so sehr um das „anti“. Das macht den Unterschied zu früheren Aufmärschen der Opposition. Da ist ein klarer politischer und personeller Gegenentwurf zu den derzeit Herrschenden. Das ist neu an der georgischen Opposition von heute und das ist viel, viel mehr als das theatralische „Kreuziget ihn“ der eher dilettantischen Oppositions-Chargen der letzten Jahre. Und das eröffnet auch die Chance auf einen ganz anderen georgischen Traum: Auf einen Wahlkampf nämlich, der bei allen erlaubten und unerlaubten Tricks der Matadore am Ende dann vielleicht doch den Standards entspricht, die viele Menschen in Georgien, aber noch mehr die Staaten Europas und der NATO an ein Land stellen, das den Anspruch erhebt, in ihrer Wertegemeinschaft Mitglied sein zu wollen. Das – und nichts anderes – könnte die eigentliche Botschaft dieses Tages gewesen sein, unabhängig von all den Schlagzeilen der allzu schnellen Internet-Medien-Gesellschaft auch in Europa. Diese Hoffnung, die Hoffnung auf eine Wahl, die den Menschen Georgiens zum ersten Mal die reelle Chance gibt, selbst über ihre Zukunft an der Wahlurne zu entscheiden, diese Hoffnung jedenfalls ist seit dem 27. Mai 2012 erlaubt.
Rainer Kaufmann