Hintergründe und Fragen
Der Chefankläger Georgiens ist nach nur etwas mehr als einem Jahr Amtszeit zurückgetreten. Normalerweise eine innergeorgische, wenn nicht sogar eine persönliche Angelegenheit. Nicht aber im Falle Archil Kbilaschwili und nicht in Georgien ein Jahr nach dem Regierungswechsel von Saakaschwilis UNM (United National Movement) zu Bidsina Iwanischwilis Georgischem Traum. Schon gar nicht, wenn ganz offensichtlich nicht nur innenpolitische Gründe eine Rolle gespielt haben, wenn es auch eine europäische Komponente gibt. Und viel weniger, wenn man sich erinnert, dass Kohabitationspräsident Micheil Saakaschwili im Juli dieses Jahres die ihm ungeliebte Justizministerin ultimativ aufgefordert hat, den ihm ebenfalls ungeliebten obersten Ankläger des Landes zu entlassen. Ihre Antwort an den Präsidenten damals: „Es ist notwendig, dem Staatsanwalt und dem Richter Respekt zu erweisen, egal ob die Justizministerin oder der Präsident mit den Entscheidungen, die sie treffen, einverstanden sind oder nicht. Richter, Ankläger und Anwälte sind drei Berufsgruppen, die wir zu achten haben, wenn wir wirklich eine unabhängige Justiz wollen.“
Der georgische Hintergrund des Rücktritts
Der heute 42-jährige Archil Kbilaschwili war Rechtsanwalt, bevor er mit der Gründung des Georgischen Traums vor etwas mehr als zwei Jahren in die Politik einstieg. Er hatte auch Bidsina Iwanischwili während der Wahlschlacht 2012 in dessen Prozessen in Sachen Staatsbürgerschaft und Parteienfinanzierung vertreten und regelmäßig eine Schlappe vor Gericht erlitten. Er darf als einer der ganz wenigen engen Vertrauten von Bidsina Iwanischwili gelten. Auch deshalb ist sein Rücktritt, fast zeitgleich mit dem Iwanischwilis vom Amt des Premiers, eine besondere Betrachtung wert.
In seinem Rücktritts-Statement erklärte Kbilaschwili, dass er keine grundsätzlichen Differenzen sowohl mit dem noch amtierenden Premier Iwanischwili als auch mit dem designierten Nachfolger, dem heutigen Innenminister Irakli Garibaschwili, habe. Man sei sich in allen strategischen Fragen einig. Es habe aber Meinungsverschiedenheiten in der Frage gegeben, welches Tempo man bei den notwendigen Reformen der Strafverfolgungsbehörden anschlage. Nach langen Gesprächen mit Iwanischwili hätten beide entschieden, dass er gleichzeitig mit Iwanischwili vom öffentlichen Amt zurücktrete, um zusammen mit ihm und seinem Team in der Zivilgesellschaft weiter zu arbeiten. „Das heißt, ich habe Bidsina Iwanischwili meine Unterstützung versprochen bei der Umsetzung der Aufgaben, die er während seinen weiteren öffentlichen Aktivitäten plant.“ Die ganze Wahrheit?
Die unabhängige Zivilorganisation „Free Georgia“ brachte die inner-georgische Diskussion um Kbilaschwili auf den Punkt: „Vertreter der früheren Regierung und Kbilaschwilis Kollegen vom regierenden Georgischen Traum waren mit seiner Arbeit gleichermaßen unzufrieden. Die ersten beklagten sich darüber, dass er hochrangige frühere Regierungsvertreter ohne Grund in Untersuchungshaft genommen hat, die anderen sind unglücklich darüber, dass er nicht in der Lage gewesen ist, Gerechtigkeit im Lande wieder herzustellen.“
Es war sicher eine der schwierigsten Aufgaben der neuen Administration, die Archil Kbilaschwili vor einem Jahr übernommen hatte. Tausende von Anzeigen gegen Vertreter der Regierung Saakaschwili stapelten sich plötzlich in den Registraturen der Staatsanwaltschaften, die abzuarbeiten noch Jahre dauern wird. Die Unzufriedenheit der Kläger, die alle eine schnelle Behandlung ihrer Einzelfälle wollten, war vorprogrammiert. Es handelt sich vor allem um unzählige Fälle von Erpressungen und illegalen Enteignungen, die Privatleute der vorherigen Regierung und ihren Vertretern anlasten. „Die Zeit ist gekommen, in der der Staat eine klare Aussage machen muss, wie er mit diesen Fällen umgeht“, sagte der scheidende Chefankläger. Es handelt sich auch um einige Fälle von vermuteter Schwerstkriminalität, die bis heute noch nicht aufgeklärt sind.
Ein anderes Problem, mit dem Kbilaschwili zu kämpfen hatte, war die Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft unter Saakaschwili nahezu alle Gerichtsentscheidungen nach ihrem Willen gestalten konnte. Richter hatten oft genug keine andere Möglichkeit, als dem Antrag der Staatsanwaltschaft, vorgegeben vom allmächtigen Justizminister, zu folgen. Dieser hat Georgien gleich nach der Wahlniederlage von Saakaschwilis Partei fluchtartig verlassen.
Am Rande einer Richterkonferenz der GIZ im Jahr 2011 war der Präsident des Obersten Gerichtshofs Georgiens, Konstantin Kublaschwili, sogar stolz darauf, dass es bei den Strafgerichten nur zwei Prozent Freisprüche gäbe. Dies begründete er mit der besonderen Qualität der Richter und der Ermittlungsbehörden. Die Anwälte, räumte er ein, seien eben fachlich nicht annähernd so qualifiziert wie die Staatsanwälte. Der jetzt scheidende Generalstaatsanwalt war zu diesen Zeiten qualifizierter Rechtssprechung ein in Insiderkreisen bekannter Anwalt.
Renate Winter, eine pensionierte österreichische Richterin und Leiterin des EU-Projektes „Capacity Building in Support of Rule of Law in Georgia“ erklärte damals im GIZ-Magazin „Aspekte“ dieses Phänomen damit, dass vor allem die Richter der ersten Instanz sich immer wieder an den „Guidelines“ des Obersten Gerichtshofes orientierten statt eigenständige Urteile zu verfassen. Die Datenbanken aller Justizorgane, der Staatsanwaltschaften und aller Gerichte waren in der zentralen Datenbank des Justizministers zusammen gefasst. Dieser, ein enger Vertrauter Saakaschwilis und qua Verfassung jeglicher Kontrolle durch das Parlament enthoben, konnte mit solchem Wissen Einfluss nehmen auf alle Verfahren. Kbilaschwili und die neue Justizministerin Tea Tsulukiani, haben zunächst einmal dieses Netzwerk zerschlagen. Die alten Staatsanwälte und die alten Richter aber sind nach wie vor im Amt, wenngleich nicht mehr digital vernetzt und gesteuert. Das sollte neuen Freiraum geben für eine wirklich unabhängige Justiz.
Seine Hauptaufgabe sei es gewesen, die totale Kontrolle der Justiz durch die Regierung zu überwinden, sagte Kbilaschwili bei seiner Abschiedspressekonferenz. Dass es dabei auch Unzulänglichkeiten gegeben habe, die er nicht übersehe, schon gar nicht gut heiße, räumte er ein. Aber es sei jetzt notwendig, die „repressive Rolle der Staatsanwaltschaft zu überwinden und ein neues, ein europäisches Modell der Strafverfolgungsbehörden zu entwerfen.“ Eine neue Politik bei der Bekämpfung der „weißen Kriminalität“ bezeichnete er als die Ouvertüre all der Reformen, die jetzt anstehen. Zur Erinnerung: Gleich nach der Niederlage im Oktober 2012 hatte Saakaschwili einen Gesetzesentwurf im Parlament eingebracht, mit der eine Amnestie für alle Wirtschaftsvergehen der letzten Jahre erlassen werden sollte. Das Parlament lehnte das Gesetz ab.
Unterstellt, Kbilaschwili wird wieder die Rechtsvertretung Iwanischwilis übernehmen, könnte es bald zu dem einen oder anderen Auftritt Kbilaschwilis vor Gericht kommen. Dann eben auf der anderen Seite des Verfahrens, als Anwalt. Nicht ausgeschlossen, dass sich beide in ihren langen Gesprächen über den Rücktritt bereits darauf verständigt haben. Denn Iwanischwili hatte im Parlamentswahlkampf immer wieder betont, dass jeder, der sich geschädigt fühlt, das Recht bekommen muss, vor einem ordentlichen und freien Gericht Klage zu erheben. Sind da nicht noch einige Rechnungen des Milliardärs und seines früheren Anwaltes mit dem georgischen Staat offen?
Der europäische Hintergrund des Rücktritts
Unter Druck geraten ist Kbilaschwili vor allem wegen seiner immer wiederholten Ankündigungen, gegen hochrangige Offizielle der Regierung Saakaschwili zu ermitteln und diese in dem einen oder anderen Fall zunächst als Zeugen einvernehmen zu wollen, auch den scheidenden Präsidenten nach Ende seiner Amtszeit. Aber manch eine Zeugenvernehmung endete im letzten Jahr in der Untersuchungshaft, wenngleich dies immer wieder durch ein Gericht bestätigt werden musste. Nicht immer sind die Gerichte Kbilaschwilis Anklägern gefolgt, ein Novum in der georgischen Justiz. Aber genau das machten ihm Freunde aus dem Georgischen Traum zum Vorwurf.
Entscheidender waren jedoch die Reaktionen im Ausland. Von selektiver Justiz war die Rede, von der rein politisch motivierten Verfolgung früherer Regierungsvertreter Prominentester Fall: Wano Merabischwili, einst allmächtiger Innenminister und kurzzeitig Premier, der seit Monaten in Untersuchungshaft sitzt und sich gleich mehreren Gerichtsverfahren stellen muss. Vor allem Vertreter der Europäischen Volkspartei (EVP), dem Zusammenschluss der konservativen Parteien in den europäischen Institutionen, wurden bis heute nicht müde, der neuen Regierung und ihren – eigentlich doch unabhängigen – Justizorganen nichts anderes zu unterstellen als Rachejustiz. KaPost-online hat mehrfach darüber berichtet.
Nach dem Wahlsieg Margwelaschwilis hat Europa noch einmal kräftig zugelegt, nicht zuletzt deshalb, darf man vermuten, weil Micheil Saakaschwili die letzten Tage seiner Amtszeit nutze, in Brüssel noch mehrfach vorstellig zu werden. Zweimal innerhalb von nur neun Tagen jettete er in die europäische Hauptstadt, um dort vor allem Repräsentanten der EVP zu treffen: Manuel Barroso, Vorsitzender der EU-Kommission, und Herman Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rates. Und bei jedem dieser Treffen wetterte Saakaschwili auch öffentlich gegen die Verfolgungsjustiz der derzeitigen Regierung. Der Hintergrund: Saakaschwilis Partei, die UNM, hat bei der EVP einen Beobachterstatus, sie gehört nach Aussagen aus der EVP zur „politischen Familie“ der Konservativen in Europa.
Manuel Barroso hat in einer Pressekonferenz mit Saakaschwili die georgische Regierung recht unvermittelt davor gewarnt, nach Ende von dessen Amtszeit rechtliche Schritte gegen den scheidenden Präsidenten zu einzuleiten. Dies könne, siehe der Fall Ukraine und Timoschenko, erhebliche Auswirkungen auf das Assoziierungsabkommen zwischen Georgien und der EU auf dem EU-Nachbarschaftsgipfel in Vilnius Ende November haben. Ähnlich direkt äußerten sich auch Van Rompuy und der schwedische Außenminister Bildt, auch ein Konservativer, der bei einem Besuch in Tiflis erklärte, das Verhältnis Georgiens zu EU werde sich in ein weitaus schlechteres Szenario verwandeln als das der Ukraine mit dem Fall Timoschenko, wenn eine Untersuchung gegen Micheil Saakaschwili eröffnet wird. Dies habe er Iwanischwili sehr deutlich gesagt.
Die anderen politischen Kräfte in Europa schweigen, auch die in der politischen Familie der EVP, die – bei all seinen Verdiensten – ein differenzierteres Bild vom scheidenden Präsidenten haben. Angela Merkel, zum Beispiel, aber auch Liberale, Sozialdemokraten und Grüne in Europa.
Fragen an einige europäischen Politiker
Dabei handelt es sich bei den – vor allem parteipolitisch – einseitigen Einlassungen aus Brüssel um einen nahezu unverfrorenen Erpressungsversuch gegenüber der georgischen Regierung und ihrer Justiz. Vor allem entspricht der Adressat, die georgische Regierung, wohl kaum einem europäischen Rechtsverständnis, nach dem die Justizbehörden unabhängig von ihrer Regierung entscheiden, welche Ermittlungen und Verfahren sie einleiten oder nicht. Unter Kbilaschwili und Tea Tsulukiani, der Justizministerin, haben die georgischen Strafverfolgungsbehörden zumindest ansatzweise versucht, genau diese Unabhängigkeit wieder zu gewinnen, die sie unter der Datenbank-Kontrolle des früheren Justizministers niemals hatten. Sollte Europa diesen Anspruch zumindest bis zum wirklichen Beweis des Gegenteils nicht einfach respektieren und unterstützen? Was soll denn etwa ein deutscher, von der Bundesregierung entsandter Rechtsberater antworten, wenn ihm georgische Richter und Staatsanwälte die Brüsseler Einlassungen vorhalten? Und was soll ein georgischer Staatsbürger von Europa und seinen Standards, von Werten nicht zu sprechen, halten, wenn er diese Einmischungen höchster Repräsentanten des politischen Kontinents in die georgische Justiz zur Kenntnis nimmt?
Hat sich etwa das Verhältnis der Bundesrepublik zu EU dramatisch verschlechtert, weil ein Staatsanwalt gegen den damals amtierenden Bundespräsidenten Wulff ermittelte, der sich demnächst als Ex-Präsident wegen einer Belanglosigkeit von Vorteilsnahme, verglichen mit den Anschuldigungen in Georgien, vor Gericht wieder findet? Oder hat sich etwa das Verhältnis Italiens zur EU dramatisch verschlechtert, weil der frühere Ministerpräsident Berlusconi ein verheerendes Gerichtsurteil nach dem anderen kassiert?
Die EU und ihre Mitgliedsländer haben in den letzten Jahren Millionen Euro unter anderem auch dafür ausgegeben, die georgischen Justizbehörden an EU-Standards heranzuführen. Archill Kbilaschwili war noch vor wenigen Wochen mit einer Delegation georgischer Staatsanwälte in Berlin und Karlsruhe beim dortigen Bundesanwalt, um sich über die unabhängige Rolle der Ermittlungsbehörden im deutschen Rechtssystem zu informieren. Wie würde ein deutscher Bundesanwalt reagieren, wenn ihm einseitige Parteipolitiker aus Brüssel und das mit der Autorität ihres EU-Amtes ähnliche Vorhaltungen machen würden und er sich aus übergeordneten außenpolitischen Zwängen nicht dagegen wehren könnte? Er würde vermutlich zurücktreten.
Europa hat in Georgien mehr zu verlieren als nur sein Gesicht. Europa hat zu lange und gegen besseres Wissen an „Micheil Saakaschwili und sein Team“ geglaubt, weil viele in Europa nicht damit gerechnet haben, dass die Georgier an den Wahlurnen ihre eigene Entscheidung über dieses Team treffen. Und viele in und aus Europa haben über Jahre einfach weggesehen statt mit umsichtiger Diplomatie zu reagieren, wenn in Georgien etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Jetzt klotzt Europa, zumindest diejenigen klotzen, die derzeit für Europa sprechen. Wann hat es jemals in den letzten zehn Jahren so deutliche Belehrungen an die georgische Regierung gegeben wie sie jetzt Iwanischwili und sein Team hinnehmen müssen? Wird das anfällige Pflänzchen der Unabhängigkeit der georgischen Justiz auf dem Altar von Vilnius geopfert, an dem die EVP allein die Ministranten stellt? Und kann man es Iwanischwili verdenken, wenn er vielleicht auch deshalb zu früh resigniert, weil er nicht weiter den Lehrbuben für europäische Parteipolitiker geben will, die das Wohl ihrer „politischen Familie“ über den eindeutigen Wählerauftrag in Georgien stellen, eine unabhängige Justiz zu etablieren?
Rainer Kaufmann