Vertrauen in die Justiz wieder herstellen

Exklusiv-Gespräch mit der neuen Präsidentin des Obersten Gerichtshofs Nino Gvenetadze

Dass sie ein etwas mulmiges Gefühl hatte, dass es „emotional sehr unangenehm“ war, ihr neues Dienstzimmer im Obersten Gerichtshof in Tiflis zu betreten, will Nino Gvenetadze auf unsere Eingangsfrage nicht verleugnen. Immerhin hatte sie sechs Jahre als Richterin für Strafsachen an diesem Gericht gearbeitet, bevor sie im Jahr 2006 – zusammen mit drei weiteren Richtern – von ihrem jetzigen Vorgänger über ein bis heute umstrittenes Disziplinarverfahren ihres Richteramtes enthoben wurde. Dem Druck aus dem Justizministerium, freiwillig und vorzeitig in Pension zu gehen, hatten die vier widerstanden und dies auch öffentlich gemacht. Jetzt ist sie zurück und hat Konstantin Kublaschwili beerbt, den Gerichtspräsidenten, der in seiner zehnjährigen Amtszeit in der Tat alles andere war als ein Garant für die Unabhängigkeit der Justiz, dessen damalige Aktivitäten sie heute „Verfolgung unabhängiger Richter“ nennt.

Also etwa doch späte Genugtuung? Auf keinen Fall, persönliche Gefühle äußert Nino Gvenetadze nicht. „Ich wurde damals gezwungen, meinen richterlichen Posten zu verlassen, obwohl ich mir nichts vorzuwerfen hatte. Deshalb kann ich jetzt mit bestem Gewissen hier in dieses Gericht zurück.“ Und die Kolleginnen und Kollegen in dem Gericht wüssten zu genau, dass es ihr immer um die Unabhängigkeit der Richterschaft gegangen sei, um hohe ethische Standards.

Kein persönlicher Groll, zumindest nicht öffentlich geäußert, aber ein klares Urteil in der Sache, wenn Nino Gvenetadze die Ereignisse von damals bilanziert. In der Ära Schewardnadse arbeitete die junge Juristin intensiv an den damaligen Justizreformen im Lande mit, unter anderem im Justizministerium und in einer staatlichen Kommission zur Reform des Strafgesetzbuches. Einer der Justizminister dieser Zeit war der junge Reform-Politiker Michael Saakaschwili. Im Jahr 1999, Nino Gvenetadze war mittlerweile Chefin der Nichtregierungsorganisation Georgian Young Lawyer`s Association (GYLA), wurde sie von Lado Tschanturia, damals Präsident des Obersten Gerichtshofs und einer der wichtigsten Rechtsreformer dieser Zeit, heute georgischer Botschafter in Berlin, als Richterin an das letztinstanzliche Gericht Georgiens berufen.

Die Ära Schewardnadse war korrupt, räumt sie ein, womit ganz sicher auch Teile der Justiz einzuschließen sind. Aber: „Als Richterin konnte ich – wie jeder andere Richter auch – vollkommen unvoreingenommen und unabhängig“ agieren. Das macht sie an einigen Urteilen vor allem des Obersten Gerichtshofs aus dieser Zeit fest, der sich immer wieder am „europäischen Grundrechtsverständnis“ orientierte. Der Oberste Gerichtshof, intensiv unterstützt von der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit und in engem Kontakt mit dem BGH in Karlsruhe, galt damals nicht zu Unrecht als das Flaggschiff der Rechtsreformen in Georgien. Als dann aber mit der Rosenrevolution „die Väter dieser Reformen“ an die Macht gekommen waren, erinnert sich Nino Gvenetadze, bekamen Justiz und vor allem die Richter „reale Probleme“. Die Regierung Saakaschwili versuchte, mit direktem Druck auf die Richterschaft Einfluss auf deren Urteilsfindung auszuüben. „Telefonjustiz“ nannte man das in Anlehnung an frühere Sowjetzeiten, wenn ein Minister in direktem Kontakt mit dem Richter noch vor Eröffnung einer Gerichtsverhandlung Urteil und Strafmaß aushandelte, wenn ein Richter überhaupt eine Chance hatte, in diesem Deal als gleichberechtigter Verhandlungspartner aufzutreten. Nino Gvenetadze und drei weitere Richter widersetzten sich diesem Druck: „Wir sind nur unserem Eid treu geblieben, den wir bei der Einstellung als Richter geleistet haben.“ Unter Ausnutzung aller Rechtsmittel bei allen georgischen Gerichtsinstanzen bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte haben sie sich gewehrt, bis heute erfolglos, denn auch in Straßburg ist die Sache Disziplinarstrafe des Jahres 2006 noch nicht entschieden. „Wir haben aber eines erreicht mit unserem Vorgehen: Wir haben mit unserem konsequent rechtsstaatlichen Verhalten bei vielen Leuten das Rechtsbewusstsein gestärkt und in allen Instanzen Spuren hinterlassen.“

Jetzt ist sie selbst Chefin einer Instanz und darüber hinaus noch Vorsitzende des Obersten Justizrates, jenes Gremiums also, vor dem damals das Disziplinarverfahren gegen die so genannten „Richter-Rebellen“ geführt wurde. Einer dieser unbeugsamen Juristen wurde kürzlich ebenfalls rehabilitiert, der heutige Jura-Professor Merab Turawa, der jetzt ins georgische Verfassungsgericht in Batumi berufen wurde.

Der Name ihres Vorgängers Kublaschwili geht Nino Gvenetadze nicht ein einziges Mal über die Lippen. Nur ein auffällig langes Seufzen und Kopfschütteln, als wir sie mit einem früheren Statement Kublaschwilis konfrontieren. Dieser hatte im GIZ-Magazin Aspekte vor einigen Jahren die Funktionsfähigkeit der georgischen Strafverfolgung und Justiz damit begründet, dass in der ersten Instanz nahezu 100 Prozent der Urteile dem Strafantrag der Staatsanwaltschaft entsprächen. Und weiter: Nur ein kleiner Prozentsatz der Urteile der ersten Instanz würden beim Berufungsgericht angefochten. Und auch da würden die Richter in den allermeisten Fällen so entscheiden wie die der ersten Instanz, will heißen, wie die Staatsanwaltschaft es wollte und damit die Regierung. Der Chef des Obersten Gerichtshofs hat damit unfreiwillig den wirklichen Zustand der georgischen Justiz während der Präsidentschaft Saakaschwilis charakterisiert, in der die Richter ihre Urteile meist auf Anweisung von oben sprachen.

Ein langer Seufzer von Nino Gvenetadze, wie gesagt, dann dies: „Ich will eine Präsidentin sein, die nach ein paar Jahren voller Freude feststellen kann, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die Justiz wieder hergestellt wurde.“ Sollte sie dies dann mit irgendwelchen Statistiken belegen können, schön. Aber Statistiken – siehe Kubliaschwili – was beweisen die schon?

Um dieses Ziel zu erreichen, muss dann aber nicht auch das Fehlverhalten der Justiz, die sich politisch hat gängeln und instrumentalisieren lassen, aufgearbeitet werden? Nino Gvenetadze hat dazu eine klare Meinung. Natürlich wird sie disziplinarisch und auch strafrechtlich initiativ werden, sollte es entsprechende Beweise und Klagen geben. Aber vorher setzt sie darauf, dass sich die Richterschaft in einer Art „Selbstreinigung“ mit den Verfehlungen dieser Zeit beschäftigt. Natürlich müsse diese „selbstkritische Bewertung“ der Justiz in aller Öffentlichkeit geschehen, denn die „Gesellschaft erwartet dies und hat ein Anrecht darauf.“ Dafür habe die gesamte Richterschaft aber ihren kämpferischen Beistand, wenn wieder jemand versuchen sollte, mit Druck die Unvoreingenommenheit und Unabhängigkeit eines Richters zu unterminieren. Dass dieses Versprechen ernst genommen und im Zweifel als eine Kampfansage an die Regierenden bewertet werden darf, wird in Justizkreisen allenthalben bestätigt, in der ihr eine besondere Kämpfernatur in Grundsatzfragen richterlicher Ethik attestiert wird.

Für einen Teil des georgischen Parlaments gilt Nino Gvenetadze allerdings noch immer als eine „Vertreterin der korrupten Justiz der Schewardnadse-Ära“. Die Abgeordneten der Saakaschwili-Partei UNM blieben der Sitzung fern, in der Nino Gvenetadze zur Präsidentin des Obersten Gerichtshofs gewählt wurde.

Rainer Kaufmann