Sicherheitspolitik von Vancouver bis Wladiwostok

Hans-Dietrich Genscher erinnert an den Harmel-Bericht der NATO

In einem Gastbeitrag in der „Mitteldeutschen Zeitung“ vom 12. August 2014 setzt sich der frühere deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher angesichts der aktuellen Krisen in und außerhalb Europas für neue politische Initiative der Bundesrepublik Deutschland ein. Sein Credo: In Europa kann es keine Stabilität geben ohne Russland, gegen Russland schon gar nicht. Hier der Wortlaut des Genscher-Artikels:

„Es ist wahr, die Welt brennt an vielen Stellen – ein Weltenbrand ist es deshalb noch nicht. Aber die Gefahr, dass nahe Feuer sich zu einem Großbrand vereinen, ist groß. Um solche neuen Feuer geht es – nicht weit entfernt von Europa, eines davon sogar in Europa. Vor 25 Jahren hatten wir andere Perspektiven. Eine weitsichtige, politische Strategie der NATO – der Harmel-Bericht – wollte eine gerechte Friedensordnung für ganz Europa, die deutsche Vereinigung eingeschlossen. Mehr noch, West und Ost hatten gemeinsam einen Stabilitätsraum definiert mit der KSZE, jetzt OSZE, von Vancouver bis Wladiwostok. Nach dem Zerfall der Sowjetunion Russland nicht als Gegenpol zu verstehen – das war die Umsetzung der alten Einsicht, dass es in und für Europa Stabilität nicht geben kann ohne Russland und erst recht nicht gegen Russland.

Russlands Schwäche nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde nicht als Chance einer Zukunftspartnerschaft auf gleicher Augenhöhe genutzt. Altes Rivalitätsdenken breitete sich aus, man könnte auch sagen: die Chance des Harmel-Berichts der NATO von 1967 wurde nicht genutzt. Die Idee westlicher Raketenabwehrstellungen ohne gesamteuropäische Verständigung wirkt schwerwiegend nach und nicht nur sie. Natürlich gab es auch Fehler auf der anderen Seite – man denke nur an die Krim, aber Einsicht in die Folgen eigenen Handelns kann besonders hilfreich sein.

Das Ende des Kalten Krieges eröffnete die Chance, die Teilung Europas zu überwinden. Aber sie wurde von immer mehr Akteuren missdeutet als die Möglichkeit, die Teilungsgrenze aus der Mitte des Kontinents nach Osten bis zur Westgrenze Russlands zu verschieben. Wer erinnert sich noch der standing ovations des Deutschen Bundestages für Präsident Putin in seiner ersten Amtsperiode, als man auf beiden Seiten eine gesamteuropäische Freihandelszone unter Einschluss Russlands forderte. Wäre sie Wirklichkeit geworden, hätte die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union auch aus Moskauer Sicht in einem anderen Verständnis erscheinen lassen.
Noch ist es nicht zu spät. Noch können wir an das Grundverständnis anknüpfen, das vor 25 Jahren einen neuen Anfang möglich machte für die Einheit der Deutschen und der Europäer.

Von der Verantwortung der Deutschen zu reden, ist ein neu entdecktes Thema. Die Entscheidung der Bundesrepublik für die Westintegration und gegen eine Neutralisierung wurde zur Geburtsstunde eines neuen demokratischen Europa und der transatlantischen Partnerschaft. Das am Boden liegende Deutschland eröffnete mit seiner Entscheidung dem Kontinent eine neue Chance. Das daraus erwachsende Deutschland der Bundesrepublik eröffnete mit seiner Ostvertragspolitik und der KSZE als Hauptakteur die Chance eines gesamteuropäischen Neubeginns.

Deutschland muss jetzt nicht e n d l i c h, sondern w i e d e r Verantwortung übernehmen, für einen neuen großen Entwurf für den Raum von Vancouver bis Wladiwostok. Das wird auch andere Konflikte gemeinsam lösbar machen. Deutsche Verantwortung? Ja! – für einen neuen gesamteuropäischen Entwurf. Deutsche Verantwortung nicht irgendwo, sondern hier. Darum geht es. Hic rhodos, hic salta.

Hintergrund zum Harmel-Bericht:

Als Harmel-Bericht bezeichnet man einen durch den belgischen Außenminister Pierre Harmel angeregten Bericht von 1967 zur Lage der NATO angesichts der bestehenden NATO-Strategie „Massive Vergeltung“. Dabei ging Harmel von der Grundfunktion der NATO aus. Diese sollte als ein Faktor des dauerhaften Friedens gestärkt werden. Dabei hatte sie zwei Hauptfunktionen:
1. Durch ausreichende militärische Stärke abschreckend zu wirken, um das Gebiet der Mitgliedstaaten eventuell erfolgreich verteidigen zu können.
2. Im Rahmen dieser militärischen Sicherheit dauerhafte Beziehungen herstellen, mit deren Hilfe grundlegende politische Fragen gelöst werden können.
Daraus folgt, dass militärische Sicherheit und eine Politik der Entspannung keinen Widerspruch, sondern eine gegenseitige Ergänzung darstellen. Sicherheit wurde als Summe von Verteidigung und Entspannung verstanden. Alle NATO-Mitgliedstaaten waren aufgerufen, ihr nationales Beziehungsgeflecht zur UdSSR zu verbessern. Allerdings durfte im Rahmen dieser Entspannungspolitik das Verhältnis zur Allianz nicht gefährdet werden (am besten durch eine gleichgerichtete Politik der Mitgliedstaaten der NATO). Man ging davon aus, dass auch die osteuropäischen Staaten dieser Politik positiv gegenüberstehen. Ausfluss dieser neuartigen Politik sollte auch die Klärung der Deutschlandfrage sein, die den Hauptspannungsgrund in Europa darstellte. Der Harmel-Bericht fand schließlich 1967 seinen Niederschlag in der neuen Nato-Sicherheitsstrategie Flexible Response.  (Quelle: Wikipedia)