Vom Goldenen Vlies zur „Golden Card“ der NATO

Anmerkungen zum NATO-Gipfel und dem gewünschten Beitritt Georgiens zum Bündnis

Ein paar Vorbemerkungen sind unerlässlich. Erstens ist es das souveräne Recht eines jeden Staates, sich ein Bündnis seiner Wahl zu auszusuchen, wenn er glaubt, den Schutz eines Bündnisses zu benötigen. Zweitens hat kein anderer Staat der Welt das Recht, dieses zu verhindern zu versuchen, mit welchen Mitteln direkten oder indirekten Druckes auch immer. Und drittens: Es ist das Recht eines jeden Bündnisses, sich für die Aufnahme eines weiteren Mitgliedes zu engagieren und zu entscheiden. Es ist auch das Recht eines Bündnisses, Mitgliedsanträge nicht positiv zu bescheiden. Viertens schließlich: Das Thema NATO-Erweiterung hat zu viele Aspekte und weit reichende Folgen für Europa, als dass es alleine unter dem Eindruck der aktuellen Geschehnisse in der Ukraine betrachtet werden darf. Nach diesen Vorbemerkungen ist also der Wunsch Georgiens nach einer NATO-Mitgliedschaft zunächst einmal die selbstverständlichste Sache der Welt. Wenn die Welt so selbstverständlich einfach funktionieren würde.

Nicht einmal die NATO funktioniert noch so einfach, sie ist längst ein höchst differenziertes Gebilde, das anscheinend nur unter schwersten Schmerzen noch zu einem einheitlichen Meinungsbild gelangen kann. Wie sonst kann es dazu kommen, dass sich NATO-Mitglieder auf Regierungsebene gegenseitig abhören und ausspähen. Die Zweifel am anderen sind längst im inneren Gefüge der NATO angekommen. Politik des kleinsten, gemeinsamen Nenners – viel mehr ist derzeit nicht zu erwarten. Das war viel einfacher zu Zeiten des Kalten Krieges, als ein klares Feindbild kaum Zweifel an der Geschlossenheit der NATO aufkommen ließ.

Es geht in der NATO auch um unterschiedliche Interessen. Das Interesse vieler zentraleuropäischer Staaten, also der Mitglieder des alten Europa, dürften nicht unbedingt kompatibel sein mit den Interessen der Neu-Mitglieder aus Osteuropa, die, ihren historischen – teils russischen, teils sowjetischen – Traumata geschuldet, in der NATO vor allem ein Instrument sehen, das Sicherheit bieten soll vor russischem Großmachtstreben. In Zentraleuropa dagegen hat man nach dem Zusammenbruch der UdSSR vor allem auf eine langfristige Sicherheits- und Wirtschafts-Kooperation mit Russland gesetzt. Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Sicherheit waren als Seiten ein und derselben Medaille gedacht. Auch die vitalen Interessen der USA und der Staaten Zentraleuropas sind nicht mehr annähernd so kongruent wie zu Zeiten des Kalten Krieges.

Obwohl vor allem von einigen Ländern Osteuropas gefordert, wurde die NATO-Russland-Grundakte beim Gipfel in Wales nicht außer Kraft gesetzt. Damit kommt es zu keinen Truppenstationierungen im Baltikum zum Beispiel. Die schnelle Eingreiftruppe, die dafür geschaffen werden soll, ist nicht mehr als ein Trostpflaster für die Polen und Balten. Aber auch ein Signal an Moskau, den Bogen selbst nicht weiter zu überspannen und wieder zum gemeinsamen Sicherheits-Dialog zurückzukehren. Das ist wohl die wichtigste Entscheidung des NATO-Gipfels von Wales. Ein einseitige Kündigung der NATO-Russland-Grundakte hätte den sicheren Einstieg in eine neue Phase des Kalten Krieges bedeutet, den man mit diesem Vertrag eigentlich ein für allemal überwunden haben wollte.

Diese Grundakte verbietet die dauerhafte Stationierung substantieller NATO-Kampftruppen in den Staaten Mittel- und Osteuropas und gibt damit Russland durchaus die Möglichkeit, auf interne Entscheidungen des Bündnisses Einfluss zu nehmen. Aber: Diese Möglichkeit hat die NATO selbst geschaffen, indem sie diesen Vertrag mit Russland abgeschlossen hat. Der eherne Grundsatz, nachdem geschlossene Verträge einzuhalten sind, hat sich in Wales (noch einmal?) durchgesetzt, obwohl es der russische Vertragspartner der NATO nun wirklich nicht leicht macht, sich an diesen Vertrag zu halten.

Vor diesem Hintergrund war der Wunsch Georgiens nach voller NATO-Mitgliedschaft, noch im Frühjahr diesen Jahres mit aller Macht vorgetragen, von Anfang an kaum realisierbar, wenngleich er von einigen NATO-Mitgliedern unterstützt worden war. Es gab aber auch andere NATO-Mitglieder, allen voran Deutschland, die sich diesem Wunsch widersetzten.

Herausgekommen ist für Georgien ein „besonderes Paket“ bevorzugter Partnerschaft, das unter dem Etikett „Golden Card“ publikumswirksam verkauft wird. Zusätzliche Militärhilfe, eine Aufstockung des NATO-Verbindungsbüros in Tiflis und ein NATO-Trainingszentrum in Georgien, in dem Soldaten aus NATO-Staaten und Georgien gemeinsam ausgebildet werden sollen. Dabei ist höchst unklar ist, wer dieses NATO-Ausbildungszentrum zu sichern und verteidigen hätte, sollten sich die Ereignisse von 2008 in Georgien einmal wiederholen. Daran allerdings will heute niemand denken.

NATO-Offizielle feiern diese „Gold Card“ als enormen Fortschritt für Georgien, der amerikanische Verteidigungsminister Chuck Hagel eilte direkt von Wales zu seinem ersten offiziellen Besuch nach Georgien. Ein Besuch, der eher symbolische Bedeutung hat und der der georgischen Regierung wohl helfen soll, das Ergebnis von Wales angemessen zu verkaufen. Denn die volle Mitgliedschaft Georgiens in der NATO, das eigentliche Ziel seiner Politik, ist wieder einmal auf längere Zeit vertagt. Die „Golden Card“ ist in Wirklichkeit nicht mehr als ein weiteres Trostpflaster für das Land des goldenen Vlieses.
Rainer Kaufmann