In jeder Krise steckt eine Chance

Nach der Krimkrise: Georgien und die NATO-Mitgliedschaft
Ein Kommentar von Rainer Kaufmann

So schnell kann es gehen mit dem politischen Wetterwechsel. Bei seinem Washington-Besuch im Februar konnte sich Irakli Gharibashvili, Georgiens junger und unerfahrener Premier, noch berechtigte Hoffnung machen, dass sich wenigstens die US-Administration bei allen NATO-Mitgliedern dafür einsetzen würde, Tiflis in diesem Jahr den sogenannten MAP (Membership Action Plan) zu gewähren. Immerhin hat damals niemand in der amerikanischen Hauptstadt dieses georgische Begehren infrage gestellt. Im Gegenteil. Und Obama höchstpersönlich hat den georgischen Regierungschef geradezu hofiert.

Jetzt, nur wenige Wochen später und nach dem Kurzkrimi um die Krim, hat der US-Präsident zur Überraschung vieler die Karten auf den Tisch gelegt: Weder Georgien noch die Ukraine seien derzeit auf dem Weg in die NATO-Mitgliedschaft. Und: Die NATO wird sich vorerst nicht erweitern. Eine deutliche Ansage nach jahrelangem diplomatischem Herumeiern diesseits und jenseits des Atlantiks.

Ernüchterung vor allem in der georgischen Regierung, die im Sog der Ukraine-Krise mit einer erheblichen Beschleunigung der Euro-atlantischen Integration kalkuliert hatte und jetzt ihrer Bevölkerung erklären muss, das Thema NATO-Mitgliedschaft ist erst einmal vom Tisch. Die Warteschleife von Bukarest droht zum Dauerzustand zu werden. Viele in Georgien stellen sich die Frage, warum die NATO oder zumindest einflussreiche Regierungen des Bündnisses immer wieder die Hoffnung genährt hatten, es könne doch etwas werden mit der Vollmitgliedschaft. Und manch einer kommt jetzt zu dem Schluss, der amerikanische Präsident habe nach dem Krim-Desaster seinem Widersacher Putin mit dieser Aussage signalisiert, Washington werde trotz kraftstrotzender Worte und Sanktionen den Bogen auf keinen Fall überspannen. Das Ergebnis: Plötzlich telefonieren die Staatschefs der beiden Supermächte wieder miteinander und lassen ihre Außenminister an einer diplomatischen Lösung für die Ukraine arbeiten. Wird dafür der georgische Verbündete geopfert?

Keinesfalls, denn es war Obamas Administration, die die Bush-Politik einer schnellen Aufnahme Georgiens in das Bündnis von Anfang an auf Eis gelegt hatte, allerdings ohne dem Beitrittskandidaten und allen anderen Mitspielern in und außerhalb der Region reinen Wein einzuschenken. Es bedurfte erst der Krim-Krise, um diese Klarstellung abzurufen. Ein Zeichen von Führungsstärke ist das nicht. Verlässlichkeit sieht anders aus, darf man wenigstens in Georgien vermuten.

Für Tiflis ist jetzt aber der Zeitpunkt gekommen, außenpolitische Zielvorstellungen auf ihre Umsetzbarkeit in der realen politischen Wirklichkeit zu überprüfen. Dabei muss es nicht um einen grundsätzlichen Kurswechsel gehen, die West-Orientierung des Landes muss nicht infrage gestellt werden. Sie darf nicht infrage gestellt werden. Aber: Es geht um das Alles oder Nichts in Fragen der Mitgliedschaften etwa. Es geht auch um das Entweder-Oder in der Positionierung Georgiens zwischen Russland und West-Europa. Bei beiden Themen wäre dem Land und seiner Regierung eine neue Kreativität zu wünschen, ganz einfach der Mut, neben schwarzen und weißen Tönen auch die grauen zu erkennen, die Zwischentöne, die ein Miteinander unterschiedlicher Interessen erst ermöglichen. In der internationalen Politik geht es immer um einen Ausgleich verschiedener Interessen. Und kein nationales Interesse ist per se gut, das andere schlecht. So könnte die Krimkrise der georgischen Politik jetzt die Notwendigkeit und die einmalige Chance eröffnen, das Verhältnis zu beiden Nachbarn einvernehmlich zu regeln und zwar mit beiden Nachbarn, mit  den Nachbarn im Westen und dem Nachbarn im Norden. Eine Chance, die man vermutlich nur in der Krise erkennen kann.

Die Nachbarn im Westen, vor allem die in den Zentren Europas, können Georgien auf diesem Weg helfen. Aber nur mit offenen und ehrlichen Ansagen und gemeinsam mit allen Mitspielern der Region zu entwickelnden zukunftsträchtigen Strategien. Strategien, die dann auch der Bevölkerung vermittelbar sind, die bisher nur mit wagen Versprechungen hingehalten wurde. Wer jetzt noch glaubt, dem Land und seinen Menschen helfen zu können mit diplomatischen Leerformeln, die allen alles versprechen und auch nichts, ist dafür mit verantwortlich, wenn hierzulande irgendwann – vielleicht schon in naher Zukunft – der Euro-atlantische Frust Oberwasser bekommt. Welche Dämme dann brechen können, will heute kaum jemand erahnen. Der Moskauer Stratege indes kann in aller Ruhe abwarten. Wieder einmal.