Zur Erinnerung an Gert Hummel

Gespräch mit Gert Hummel im Internet-Portal Georgien-News aus dem Jahr 2002

Vor zehn Jahren ist Gert Hummel gestorben, der erste evangelisch-lutherische Bischof in Georgien. Aus diesem Anlass fand in der evangelisch-lutherischen Versöhnungskirche in Tiflis eine Gedenkfeier statt, bei der neben dem derzeitigen Bischof Hans-Joachim Kiderlen vor allem frühere Weggefährten Hummels das Leben und Wirken des Universitätsprofessors und Seelsorgers würdigten: Bischof Malchas Songulaschwili von der Baptistischen Kirche Georgiens und der ehemalige Universitätsrektor Roin Metreweli. Für die jüngere Generation erinnerten sich der ehemalige Stipendiat Ivo Mindadse und die frühere Konfirmantin Tima Areschewa an Gert Hummel.

Hummel war bereits zu Sowjetzeiten als Partnerschaftsbeauftragter der Universität Saarbrücken immer wieder in Tiflis. Er war für die Partnerschaftsprogramme zuständig, vor allem auch für die Betreuung georgischer Stipendiaten in Saarbrücken. Bei den Besuchen in Georgien traf der gebürtige Schwabe auf die Nachkommen württembergischer Landsleute, die vor knapp 200 Jahren in den Kaukasus ausgewandert waren. Fortan feierte er bei jedem seiner Universitäts-Besuche mit den in Tiflis verbliebenen Protestanten in einem heruntergekommenen Filmsaal einen Gottesdienst, musikalisch begleitet vom Akkordeonisten Robert Merabow, der auch jetzt die Gedenkfeier wie gewohnt virtuos umrahmte. Nach seiner Emeritierung kam Gert Hummel zusammen mit seiner Frau Christiane nach Tiflis, um mit überwiegend privaten Finanzmitteln die Versöhnungskirche zu bauen samt Diakoniestation, die Christiane Hummel heute noch leitet. Hummel wirkte erst als Gemeindepastor, später dann – nach der Gründung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Georgiens – als Bischof. Am 15. März 2004 verstarb er in Tiflis.

Aus diesem Anlass veröffentlichen wir nachfolgend ein Gespräch, das KaPost-Herausgeber Rainer Kaufmann im März 2002 mit Bischof Hummel für die damalige Internet-Plattform „Georgien News“ geführt hatte. Wir veröffentlichen das Gespräch aus dokumentarischen Gründen ungekürzt und lediglich mit ein paar Anmerkungen, die eine inhaltliche Einordnung zwölf Jahre später erleichtern soll. Das Gespräch zeigt Gert Hummel, einen der wichtigsten Förderer der deutsch-georgischen Beziehungen der achtziger und neunziger Jahre, als jemanden, der – in aller Freundschaft, aber vielleicht gerade wegen dieser Freundschaft – immer Klartext redete.

www.georgien-news.de März 2002

Vor einigen Wochen hat die Arbeitsgemeinschaft der christlichen Kirchen in Georgien eine „Ökumenische Charta“ vorgelegt. In dieser Arbeitgemeinschaft sind die Evangelisch-Lutherische Kirche, die Evangelisch-Baptistische Kirche, die Katholische Kirche und die Armenisch-Apostolische Kirche zusammengeschlossen. Die georgische-orthodoxe Kirche ist nicht vertreten. Im NG-Gespräch äussert sich der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Georgien, Prof. Gert Hummel, zur Situation der Kirchen in Georgien, zur schwierigen Zusammenarbeit mit der georgischen Orthodoxie, die den Weltrat der Kirchen verlassen hat, und zur religiosen Toleranz in Georgien, die von einer Gruppe fundmentalistischer Orthodoxer durch Gewaltakte mit Füssen getreten wird.

GN: Warum sind die vier nicht original georgischen Kirchen, wenn wir das einmal so salopp umschreiben dürfen, mit diesem Papier in die Öffentlichkeit getreten? Da muss es doch einen Grund geben.

Prof. Hummel: Wir haben es angesichts der aktuellen religiösen Situation im Lande für richtig gehalten, diesen Text zu publizieren, um der wachsenden, oder besser gesagt der werdenden ökumenischen Zusammenarbeit einen Impuls zu geben. Es ist unsere erste gemeinsame Publikation. Aber die „Charta“ ist kein ursprunglich georgisches Dokument. Sie ist ein Gemeinschaftswerk einerseits der Konferenz Europäischen Kirchen (KEK), das sind alle evangelischen Kirchen, die Anglikaner und auch die Orthodoxen, soweit sie im Genfer Weltrat der Kirchen (ÖRK) mitarbeiten, und andererseits des Rates der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE), das das sind alle Katholischen Diözesen in Europa. Wir haben die ursprünglich Deutsch verfasste „Charta“ ins Georgische übersetzen lassen und sie zusammen mit der russischen Version veröffentlicht. Georgien ist ein europäisches Land, strebt in die Europäische Union; also muss die Georgier ein solches Dokument unseres Erachtens interessieren.

GN: Mit dem Begriff wachsender oder werdender Ökumene umschreiben Sie aber sehr diplomatisch das Fehlen der grössten Kirche im Lande, nämlich der georgischen Orthodoxie, in der Arbeitsgemeinschaft.

Prof. Hummel: Das Fehlen bedauern wir sehr. Die georgische Orthodoxe Kirche ist aber in einer besonderen Situation, die verschiedene Wurzeln hat. Faktum ist, dass der Patriarch von der Mehrheit seiner Bischöfe und insbesondere seiner Äbte gezwungen wurde, aus der Ökumene auszutreten. Das heisst, die Mehrheit der Kirchenführer der Orthodoxie ist anti-ökumenisch eingestellt und hält von allen anderen christlichen Kirchen absolut nichts, hält sie für abgefallen von der ursprünglichen Kirche.

GN: Können Sie dies irgendwie nachvollziehen?

Prof. Hummel: Im Blick auf die Geschichte der Kirche kann ich das nicht. Es gab nie eine einzige „rechtgläubige“ Kirche, von der alle anderen abgefallen sind. Die ökumenische Zusammenarbeit in den ersten christlichen Jahrhunderten war deshalb ein schwieriges Geschäft, die dogmatischen Entscheidungen waren Kompromisse, die oft von den Kaisern erzwungen und deshalb später wieder geändert wurden. Als häretisch verurteilte Gruppen wurden oft wieder rehabilitiert. Auch Georgien hat bekanntlich zweimal die Fronten gewechselt.

Ich habe andererseits ein gewisses Verständnis für die Haltung der georgischen Orthodoxie, die ja auch innerhalb der orthodoxen Kirchen eine Ausnahme ist. Wer siebzig Jahre als Kirche nur in reduzierter Form geduldet ist, tendiert leicht zurück in die Vergangenheit, als noch galt, dass Georgier sein und orthodox sein identisch war. Natürlich liegt das weit zurück, nämlich im Mittelalter. Aber es wäre ein Irrtum, zu glauben, es gäbe im 3. Jahrtausend kein mittelalterliches Denken mehr. Das Land am ewigen Kaukasus enthält viel Konservatives und nicht alles ist einfach als Vergangen zu verwerfen.

Dennoch: Angesichts der ungezählten Lebensprobleme Georgiens ist die Verweigerung der Zusammenarbeit in der Ökumene nicht konstruktiv, sondern hinderlich. Es ist nicht einzusehen, weshalb die vier in der Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossenen christlichen Kirchen und die Juden und die Moslems zusammenarbeiten und die orthodoxe Kirche aussen vor bleibt. Wir haben zwar vor einem Jahr erste Annäherungen verwirklicht, aber viel Praktisches ist bislang nicht herausgekommen. Keine Kirchen und keine der Weltreligionen ist zum Beispiel juristisch annerkannt, auch die orthodoxe Kirche nicht. Georgien braucht dringlich ein Religionsgesetz. (Anm. d. Red.: Ein Kirchengesetz wurde em Ende der Präsidentschaft Saakaschwili verabschiedet und in Kraft gesetzt.)

GN: Warum gibt es noch kein Religionsgesetz?

Prof. Hummel: Es gibt verschiedene Gesichtspunkte, weshalb das bislang nicht geschehen ist. Ein wesentlicher ist, dass das Parlament aus politischen Gründen seit Monaten nicht in der Lage ist, wirklich konstruktive Gesetzesarbeit zu leisten. Und so schwierige Projekte wie ein Religionsgesetz schiebt man dann besonders gerne vor sich her.

Schwierig ist das Projekt, weil es mindestens drei Richtungen gibt, wie die Regelung des religiösen Bereichs erfolgen könnte. Erstens die betont konservative Gruppe, die am liebsten die georgische orthodoxe Kirche wieder als Staatskirche etablieren und und dies in der Verfassung verankern möchte. Das wäre natürlich auch dem Patriarchat, das heisst der Mehrheit der Bischöfe und Äbte das liebste. Aber ein moderner demokratischer Staat kann das nicht akzeptieren. Eine Konsequenz dieser Haltung ist übrigens, dass dann am liebsten alle anderen christlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften des Landes verweisen würden. Solches wird nicht nur unter vorgehaltene Hand gesagt.

Die zweite Richtung möchte einen Staatskirchenvertrag zwischen der Regierung Georgiens und der orthodoxen Kirche schliessen. Dazu gibt es einen mehrfach veränderten Text, der sehr viel Kritik von verschiedenen Seiten erfahren hat  – und das zurecht. Er ist bislang auch nicht offiziell ratifiziert worden, obwohl manche Leute hoffen, das man das vergisst. Was übrigens nach einem Abschluss einen solchen Konkordats mit den anderen Kirchen und Religionen geschieht, ist bislang völlig offen. (Anm. d.R.: Das Konkordat wurde noch zur Regierungszeit Schewardnadses unterzeichnet.)

Die dritte Richtung plädiert für ein allgemeines Religionsgesetz, das wie in anderen Demokratien auch durchaus Unterschiede im juristischen Status machen könnte, zwischen traditionellen Kirchen der Weltreligionen und den neuerstandenen Religionsgruppen, die es auch in Georgien gibt und die für die Orthodoxie ein besonderer Dorn im Auge sind. Das Religionsgesetz ist meines Erachtens die einzig sinnvolle Lösung. Aber der Orthodoxen Kirche schmeckt sie am wenigsten.

GN: Warum?

Prof. Hummel: Nun, sie müsste sich ja wie alle anderen Religionsgemeinschaften unter ein gemeinsames politisches Gesetz stellen und das verträgt sich schlecht mit ihrem Selbstverständnis, eigentlich die einzige christliche Kirche im Land zu sein.

GN: Dürfen wir noch einmal auf die innere Situation der orthodoxen Kirche in Georgien und ihren Austritt aus dem Weltkirchenrat zurückkommen. Es scheint doch, dass Ilia II, der lange Zeit in Genf gewirkt hat, nicht unbedingt ein Gegner der Ökumene ist.

Prof. Hummel: Das kann man sicher sagen. Man kann das schon deshalb sagen, weil er erstens ein sehr gebildeter Mensch ist, der in Westeuropa, in der Schweiz, studiert hat und vier Jahre lang für den verstorbenen Patriarchen von Moskau sogar einer der sechs Präsidenten des ökumenischen Rats gewesen ist, also durchaus ökumenische Erfahrungen mitbringt. Er weiss auch, wie wichtig Zusammenarbeit ist. Auf der anderen Seite haben ihn eben seine Bildung und Klugheit vor einer Spaltung seiner Kirche bewahrt, als ihn die Mehrheit seiner Bischöfe und Äbte dazu genötigt hat, die Ökumene zu verlassen. Ich denke, das ist schon wichtig, dass wir in diesem Land nicht wie in Bulgarien eine gespaltene orthodoxe Kirche haben.

GN: Sie haben ja ein gutes persönliches Verhältnis zum Patriarchen und kennen ihn sehr genau. Treffen Sie sich noch wie früher? Wie gehen Sie miteinander um? Sie kennen und Sie schätzen sich doch gegenseitig, wie man weiss.

Prof. Hummel: Wenn wir treffen, gehen wir sozusagen nicht institutionell miteinander um. Wir schätzen uns auch weiterhin und sprechen miteinander. Er hat ja auch in einem Film über mich sehr nette Worte gefunden. Ich  bin auch weiterhin bereit, ihm zu helfen wie früher, als ich ihm zum Beispiel Literatur brachte für seine Bibliothek und die Seminarbibliothek. Aber es ist mir auch klar, im Moment kann er unter diesen Verhältnissen nicht darum bitten. Wir müssen darauf hoffen, dass Notwendigkeit oder Klugheit gebieten, die Zusammenarbeit wieder aufzunehmen. Ich hoffe und wünsche, dass er in den geplanten Runden Tisch der Religionen einen Delegierten entsendet. Wir werden diesen Runden Tisch sicher machen zusammen mit den Juden und den Moslems, auch wenn die Orthodoxen nicht mitmachen. Er ist einfach notwendig, schon aufgrund der Tatsache, dass es in Georgien auch aggressive anti-ökumenische Aktivitäten gibt.

GN: Das sind, wie man weiss, nicht nur anti-ökumenische Aktivitäten, sondern  kriminelle Aggressionen gegen alles was nicht orthodox ist. Angefangen hat es mit den Zeugen Jehovahs, dann mit den Baptisten: Überfälle, Schlägereien, Störungen der Gottesdienste, Einbruch, Diebstahl, Bücherverbrennungen und anderes. Was ist denn von der viel gepriesenen religiösen Toleranz Georgiens noch übrig?

Prof. Hummel: Ich will zunächst einmal sagen, dass ich sehr froh bin, dass es in diesem Lande eine Tradition der Toleanz gibt. Das soll man wegen der Aktivität einer kleinen Gruppe von etwa 200 Anhängern, hauptsächlich Frauen, die man kaum anders als eine Sekte, in diesem Falle eine orthodoxe Sekte, bezeichnen kann, nicht wegwerfen. Es gibt diese Toleranz noch und die Mehrheit der Bevölkerung ist meiner Meinung nach ganz klar auf der Seite dieser Tradition und stolz auf sie.

Ich will sogleich darauf hinweisen, dass diese Tradition ihren Niederschlag in der Verfassung Georgiens gefunden hat, die in den Artikeln 9 und 19 Religionsfreiheit gewährt. Damit handelt es sich bei diesen Angriffen auf andere Religionsgemeinschaften nicht nur um strafrechtliche relevante Vorgänge, sondern um einen Verfassungsbruch. Erstaunlich ist nur, dass diese Sektierer offensichtlich von höherer Stelle politisch wie zeitweise auch von der Polizei gedeckt werden. Es gibt zahlreiche Beweise dafür, dass die sog. „Basilianer“, wie man sie nach ihrem Anführer (Vater Basilius, Anm. d.R.) nennt, nicht verfolgt werden. Es sind zahlreiche Aktionen bekannt, die sie unter den Augen der Polizei ausführten, die dabei stand, und nichts unternahm, weil sie ganz offensichtlich die Order hat, nicht einzuschreiten. Auch die Gerichte verfolgen das nicht. Wenn irgendeiner von uns derlei machen würde, wäre er morgen vor Gericht und übermorgen im Gefängnis. Es ist ganz offensichtlich, dass hier Protektion herrscht.

GN: Woher kommt diese Protektion?

Prof. Hummel: Man hört immer wieder die Ausrede, dass man keinen Märtyrer schaffen wolle. Dann würden seine Anhänger noch mehr anrichten. Ich bin nicht überzeugt davon. Wenn in diesem Lande klare gesetzliche Regelungen auch praktiziert würden, würden auch diejenigen, die meinen, dann noch mehr auf die Barrikaden gehen zu müssen, Angst haben, ebenfalls ins Gefängnis zu kommen.

GN: Es gibt aber nicht nur diese „Basilianer“ und ihre radikale Tätigkeit. Es gibt doch eine weit verbreitete und tiefer gehende Aversion gegen alle nicht orthodoxen Religionen. Haben Sie dies auch schon in Ihrem Umfeld kennengelernt?

Prof. Hummel: Das kann ich glücklicherweise verneinen. Ich kann das auch für die Katholiken und für die armenische Kirche sagen, wenn man von anderen Formen der Diskrimminierung absieht. Dass die Baptisten angegriffen wurden, hängt wohl damit zusammen, dass sie die „georgischste“ der Minoritätenkirchen sind. Sie haben hier eine lange Tradition. Ihre Mitglieder sind zumeist Georgier. Die Sprache, die dort geübt wird, ist Georgisch. Die Baptisten sind also von den nicht-orthodoxen Kirche diejenigen, die durch ethnische und sprachliche Zugehörigkeit der Orthodoxie am nächsten stehen. Da ist der „Abfall“ am ärgerlichsten, ärgerlicher als bei den Minoritätskirchen, die einen anderen ethnischen „Touch“ haben. Und es kommt dazu, dass die Baptisten sehr viel Sozialarbeit leisten, wa man von den Orthodoxen leider nicht sagen kann.

GN: Es gibt aber auch innerhalb des orthodoxen Klerus eine erkennbare Abneigung gegen andere christliche Religionen.

Prof. Hummel: Das halte ich schlicht für eine Frage der Bildung. Von der gebildeten Schicht Georgiens und in der Orthodoxie kann man es nicht sagen.

GN: Auch wenn Sie zu Religionsgemeinschaften wie die Zeugen Jehovahs keine direkte Beziehung haben, müssten sie doch auch ihre Stimme erheben, wenn diese Gemeinschaften angegriffen werden.

Prof. Hummel: Das tun wir natürlich auch. Es ist klar, dass wir die Gewalt gegen Baptisten, die unserer Arbeitsgemeinschaft angehören, nicht isolieren und sagen, die Gewalt gegen die Zeugen Jehovahs geh uns nichts an oder sei erlaubt. Wenn die Verfassung Religionsfreiheit gibt, hat jede Religionsgemeinschaft das Recht, sich zu versammeln, solange sie sich in die Gesetze des Landes einfügt. Gerade deshalb wäre es ja nötig, ein Religionsgesetz zu machen.

GN: Sie haben eben der Orthodoxie den Vorwurf gemacht, zu wenig für die Diakonie zu tun.

Prof. Hummel: Es ist bekannt, dass die orthodoxe Kirche auf diesem Gebiet keine Tradition hat. Sie ist eine feiernde, eine liturgische Kirche, während die westlichen Kirchen immer schon eher denkende und handelnde Kirchen waren. Ihre Besonderheit hat die Orthodoxie schon seit Jahrhunderten davon abgehalten, in zureichendem Masse diakonische oder soziale Einrichtungen zu schaffen.  Dabei will ich gar nicht verkennen, dass Liturgie und Feier ihre Berechtigung haben. Aber es passt mit der Not in diesem Lande absolut nicht zusammen, dass man eine Kathedrale für Millionen baut und gleichzeitig die Bettelhand ausstreckt, um eine medizinische Versorgung primitivster Art für die Armen einzurichten.

GN: Das sind starke Worte, offene Worte, die Ihnen nicht nur Freunde schaffen.

Prof. Hummel: Wenn man über Unterschiede spricht, muss man die auch klar formulieren. Was ich sage, ist in der Orthodoxie selbst bekannt. Deshalb sage ich da gar nichts Neues. Ob man das gerne hört, ist eine andere Frage. Es gibt ja auch zwischen den in der Ökumene zusammenarbeitenden Kirchen Unterschiede, die wir demnächst in einer Publikation deutlich machen, in der wir uns vorstellen. Unterschiede in der theologischen und kirchlich-praktischen Struktur sind aber noch lange kein Grund, Feindschaft zu entwickeln. Man muss nur bereit sein, zu lernen.

GN: Es gab in diesen Tagen einen politisch mitivierten Selbstmord, der ein Schlaglicht auf die moralische Situation in der politischen Klasse Georgiens wirft. Wäre dies nicht auch ein Thema, das alle Kirchen, auch die Orthodoxie veranlassen könnten, gemeinsam ihre Stimme zu erheben? (Anm. d. Red.: Ein hoher Sicherheitsbeamter Schewwardnadses hatte sich in der Staatskanzlei erschossen, nachdem bekannt wurde, dass er homosexuell war.)

Prof.Hummel: Das kann ich nur bejahen. Die Kirchen haben, wenn sie ihren gesellschaftspolitischen Auftrag erfüllen wollen, auch ihre Stimme zu erheben, was die moralische Seite in diesem Lande angeht. Es hätte natürlich eine ganz andere Wirkung, wenn die Orthodoxie da mittun würde. Aber da ist dummerweise ihre Staatsnähe hinderlich. Sie kann kein kritischer Partner des Staates sein, wenn sie sich als Staatskirche versteht. Nur eine freie Kirche kann ein kritisch-konstruktiver Partner des Staates werden. Wäre sie es, wäre es mit dem Schmutz im politischen Geschäft, den wir hier erleben, anders.

GN: Es gibt aber auch Politiker, die Kirchen bauen lassen.

Prof.Hummel: Ja, schon. Aber es ist die Frage, warum sie es tun – und mit welchem Geld.

GN: Herr Hummel, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

PS.: Einen Nachruf auf Bischof Hummel veröffentlichte Georgien-News im März 2004. Hier der Link: http://www.erkanet.de/georgien-news/oldarchiv/archive/2004/issue_04_1703/hummel.php