Vilnius: Georgiens Traum – Europas Alptraum ?

Nach der Paraphierung des Assoziierungsabkommen muss auch Europa liefern, nicht nur fordern

Der EU-Nachbarschaftsgipfel/Ost brachte Georgien nach einigen, vor allem innenpolitisch motivierten Verunsicherungen der letzen Monate seinem Traum, einmal Mitglied der Europäischen Union zu werden, einen Schritt näher. So wird es zumindest in Tiflis gesehen. Vilnius war ohne Frage ein wichtiges Ereignis für das kleine Land im Kaukasus, außenpolitisch vielleicht das wichtigste der letzten zwei Jahrzehnte. Aber viel mehr als ein erster, kleiner Schritt auf einem langen Weg ist der Erfolg von Vilnius nicht. Denn ob das Nachbarschaftsprogramm der EU angelegt wurde, um beitrittswillige Länder an die Mitgliedschaft heranzuführen oder ob es genau das Gegenteil bewirken soll, diese nämlich mit einer dauerhaften Assoziierung zufrieden zu stellen, ist bis heute unklar. Diesen Widerspruch hat die EU aus nachvollziehbaren Gründen noch nicht aufgelöst.

In Artikel 49 der EU-Verträge heißt es, dass jedes europäische Land, das die in Artikel 2 der EU-Charta genannten Werte anerkennt, das Recht hat, die volle Mitgliedschaft in der EU zu beantragen. Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören.“ Der frühere EU-Erweiterungskommissar Günther Verheugen hatte im vergangenen Jahr in Georgien klar unterstrichen: Wenn Georgien die europäischen Standards erfüllt, habe es einen Anspruch auf volle Mitgliedschaft in der EU.

In dem ganze 1.104 Seiten umfangreichen Papier, das Georgien und die EU in Vilnius unterzeichnet haben, wird auf den Artikel 49 nicht ein einziges Mal Bezug genommen, was die georgische Außenministerin Maja Pandschikidse bereits vor dem Gipfel von Vilnius auf Presseberichte hin zu einer Erklärung veranlasste: „Was Artikel 49 angeht, erwähne ich in allen Bemerkungen zum Assoziierungsabkommen immer wieder, dass Georgien die europäische Perspektive in einer Weise, die im Artikel 49 angedeutet ist, wünscht. Nichts hindert uns, diesen Wunsch zu äußern. Wir tun dies auch in der Kommunikation mit der Europäischen Union, um unseren Anspruch, eines Tages Mitglied der Europäischen Union zu werden, deutlich zu machen. Aber es gibt keine solche Zusage aus der EU und es hat in keinem Stadium der Verhandlungen solche Zusagen gegeben.“

Reden Georgien und die EU also von verschiedenen politischen Zielen, wenn es um die Annäherung des Landes an die EU via Assoziierung geht? Die EU wird irgendwann einmal nicht umhin kommen, in dieser grundsätzlichen Frage Klarheit zu schaffen, wenn am Ende nicht die ganz große Enttäuschung in Georgien stehen soll. Trotzdem gilt die Aussage eines amerikanischen Politikwissenschaftlers zur Euro-atlantischen Annäherung Georgiens: Egal, ob am Ende die volle Mitgliedschaft Georgiens in der EU oder NATO steht oder nicht, allein die Bemühungen Georgiens um diese Mitgliedschaften könnten das Land nachhaltig zum Besseren verändern. Wobei allerdings jetzt schon zu fragen wäre, ob es Georgien, seiner Wirtschaft und Bevölkerung eher nützt oder vielleicht sogar schadet, wenn allzu viele Brüsseler Standards und Vorschriften Einzug in den kaukasischen Alltag halten.

429 Artikel enthält der Vertrag auf 209 Seiten. 195 Seiten bereits unterzeichnete Protokolle zu Einzelfragen kommen dazu. Das Kleingedruckte allerdings steht auf 480 Seiten an Anhängen, in denen u.a. detailliert beschrieben ist, wann welche europäischen Normen und Standards von Georgien übernommen sein müssen, dass es am Ende zur Assoziierung kommt, zum freien Handel und zu Erleichterungen im Reiseverkehr. Rund 300 Gesetze, so ein georgischer Kenner der Materie, müssen geändert oder neu geschrieben werden, um das Land an die geforderten EU-Standards heranzuführen.

Große Erwartungen setzt Georgien vor allem in das in Aussicht gestellte Freihandelsabkommen mit der EU. Nach einer Prognose der EU soll sich mit diesem Freihandelsabkommen der Export Georgiens in die EU um zwölf Prozent steigern, der Import aus der EU nach Georgien um mehr als sieben Prozent. Klingt gut. Aber bei dem derzeitigen Import-Überschuss ist leicht auszurechnen, dass von einer solchen Entwicklung vorerst wohl eher die Volkswirtschaften der EU Nutzen ziehen als die Georgiens. Denn vor dem Export georgischer Produkte in die EU stehen bei allem freien Handel immer noch die Hürden der Zertifizierungen, wie sie in den Anhängen zum Vertrag beschrieben sind. Es steht auch noch die Hürde der Marktfähigkeit georgischer Produkte in Qualität, Lieferservice und Preis. Bei aller Freude über den Erfolg von Vilnius wird man in Georgien gut daran tun, das Kleingedruckte des unterschriebenen Abkommens genau zu lesen und ganz penibel nachzurechnen. Ohne einen deutlichen Beitrag Europas, auch einen finanziellen Beitrag, könnte sich manch eine Hoffnung von Vilnius irgendwann als Milchmädchenrechnung erweisen. Europa darf nicht nur fordern, es muss auch liefern.

Auch politisch wird Europa liefern müssen, vermutlich mehr als bisher geplant. Denn politisch gesehen war der Gipfel von Vilnius für die EU ein Riesen-Desaster, eher ein Alptraum, der auch seine Auswirkungen auf Georgien haben kann. Mit Armenien und vor allem mit der Ukraine haben zwei Staaten dem Druck Russland und seinen finanziellen wie politischen Versprechen nachgegeben und trotz jahrelangen, intensiven Verhandelns das europäische Liebeswerben erst einmal abgewiesen. Aserbaidschan und Weißrussland haben erst gar nicht ernsthaft mit der EU verhandelt. So blieben nur Moldawien und Georgien als bescheidene Erfolge einer groß angelegten Ost-Kampagne der EU. Schlimmer geht eigentlich nimmer.

Egal, wie die Proteste in Kiew ausgehen, in Moskau lacht sich einer ins Fäustchen, der den EU-Granden das seit Jahren geplante Hochamt der europäischen Ost-Partnerschaft gründlich vermasselt hat: Wladimir Putin. Schon wenige Tage später machte er sich auf den Weg nach Armenien, um dort zu erklären, Russland habe sich nie aus dem Südkaukasus zurückgezogen und werde alles tun, um seine Position in dieser Region zu stärken.

Für Georgien eine politische Ansage, die es nicht ohne aktive Unterstützung der EU bewältigen kann. Die EU wird nicht umhin kommen, neben wirtschaftlichem und finanziellem Flankenschutz auch politischen Flankenschutz in Richtung Moskau zu geben. Georgien kann seine wirtschaftliche und politische Annäherung an Europa nicht bewerkstelligen, ohne seine Wirtschaftsinteressen mit dem großen Nachbarn Russland im Auge zu behalten. Der europäische Markt wartet auf alles andere als auf Produkte aus Georgien, zumal diese noch viele Jahre brauchen, um in der EU zertifizierungs- und wettbewerbsfähig zu werden. Es sind vorerst einmal andere Märkte als die EU, an denen sich die georgische Volkswirtschaft wird ausrichten müssen, will sie in den nächsten Jahren das Wachstum erzielen, das sie braucht, um die Armut im Lande zu überwinden. Was, wenn die russischen Märkte, gerade vorsichtig neu geöffnet, wieder zusammenbrechen? Ist Europa dann darauf vorbereitet, Georgien auf seinem Weg gen Westen wirksam zu helfen?

Vor und in Vilnius wurde deutlich, dass die EU-Nachbarschaftspolitik im Osten vor allem daran krankt, dass sie den großen Nachbarn Russland nicht aktiv und offensiv als möglichen Partner in all diese Überlegungen einbezogen hat. Im Gegenteil, man hat zugelassen, dass die Annäherung an die EU sowohl in Georgien als auch in einigen postsozialistischen EU-Ländern immer wieder mit anti-russischen Reflexen aus der Zeit des Kalten Krieges begleitet wurde. Es liegt vor allem an Brüssel und den Hauptstädten in Mitteleuropa, in Moskau deutlich zu machen, dass sich gute Nachbarschaft mit der EU durchaus mit einer guten Nachbarschaft mit Russland vertragen kann. Auch Europa muss in Moskau Vertrauen schaffen, Georgien und Moldawien werden das alleine kaum erreichen. Trotzige Warnungen aus Europa, Moskau solle sich aus den Bündnisentscheidungen anderer Staaten heraus halten, sind an der Kremlmauer ungehört und wirkungslos verhallt.

                                                                                                                   Rainer Kaufmann