Georgien wählt ein neues Parlament

Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Regierung und Opposition vorhergesagt  

Von Rainer Kaufmann

Am Montag, 1. Oktober, sind etwa 3,6 Millionen Georgier aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Der Wahl kommt insofern eine große Bedeutung zu, da nach einer Verfassungsänderung die Rechte des Parlaments für die Zeit nach Ablauf der Präsidentschaft von Michal Saakaschwili im nächsten Jahr erheblich erweitert wurden. Dann wird das Parlament mit seiner Mehrheit eine Regierung wählen, bisher lag das Recht, eine Regierung zu bilden, beim Präsidenten. Mit dieser Verfassungsänderung geht Georgien einen wichtigen Schritt in Richtung parlamentarische Demokratie und gibt seine jetzige Präsidialverfassung auf.

Beobachter rechnen mit einem Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen der Regierungspartei „Vereinigte Nationale Bewegung“ und dem Oppositionsbündnis „Georgischer Traum“. Während Umfragen regierungsnaher TV-Sender lange Zeit einen hohen Sieg der Regierung voraussagten, prognostizierte das deutsche FORSA-Insitut einen klaren Sieg der Opposition voraus. Auftraggeber dieser Umfrage war allerdings die Opposition. Insgesamt bewerben sich 15 Parteien und zwei Wahlbündnisse um Sitze im Parlament. Wegen der Fünf-Prozent-Hürde dürften neben Regierungspartei und Opposition aber nur noch zwei oder drei kleinere Parteien eine Chance haben, ins Parlament einzuziehen.

Alle Umfragen sind jedoch mit Vorsicht zu interpretieren, da sie nur die Parteien-Präferenzen der Befragten berücksichtigen und somit nur für den Teil der Mandate gelten, die nach dem Verhältniswahlrecht über landesweite Listen vergeben werden. Das sind 73 der insgesamt 150 Parlamentssitze. 77 Mandate werden nach dem Direktwahlrecht in Wahlkreisen vergeben, zehn in Tiflis, 67 in den Regionen. Die Mehrheit der Parlamentssitze hängt daher im Wesentlichen davon ab, ob die Bevölkerung von der Möglichkeit des Stimmensplittings zwischen Erst- und Zweitstimme Gebrauch macht. Überhangmandate oder Ausgleichsmandate gibt es im georgischen Wahlrecht nicht, sodass es durchaus vorkommen kann, dass eine Partei, die im landesweiten Verhältnis zwar unterliegt, dafür aber signifikant mehr Direktmandate gewonnen hat, trotzdem eine Regierung bilden kann. Da außer in Tiflis die Wahlkreise mit den Verwaltungsgrenzen übereinstimmen, stellen die kleinsten Wahlkreise Kazbegi mit 5.810 Wahlberechtigten und Lentechi (5.988) ebenso je einen Direktkandidaten wie die größten, Kutaissi (62.732) oder der Tifliser Wahlkreis Gldani (154.898). In diesem System liegen also viele Möglichkeiten, dass die endgültige Sitzverteilung nicht unbedingt der landesweiten Rangfolge der Parteien entsprechen muss. Die Wahl wird demnach vermutlich in den Provinzen entschieden, obwohl Tiflis mit 1.025.455 Wahlberechtigten fast ein Drittel der insgesamt 3.613.851 Wählerinnen und Wähler stellt. Diese Zahl wurde von der Zentralen Wahlkommission veröffentlicht.

Unklarheiten gab es in den letzten Tagen noch einmal über die genaue Zahl der Wahlberechtigten, da die Verifizierungskommission für die Wählerverzeichnisse, die für die Genauigkeit der Wählerlisten verantwortlich ist, vor wenigen Tagen ein Wählerverzeichnis verabschiedet hat, das um rund 52.000 höher liegt als das der Zentralen Wahlkommission. Diese gab als Grund für die Diskrepanz unklare Registrierungsverhältnisse der betroffenen Personen an.

Von den 3.613.851 Wahlberechtigten der Zentralen Wahlkommission sind 206.795 IDP`s (Internal Displaced Persons), also Flüchtlinge aus Abchasien und Südossetien. 305.315 Wählerinnen und Wähler wohnen im Ausland, von denen sich nur 41,176 bei den georgischen Konsulaten zur Wahl angemeldet haben. 54.019 Wahlberechtigte sind derzeit im Wehrdienst, in den Gefängnissen haben 2.125 Insassen das Wahlrecht. Die kleinste Wählergruppe stellen mit 116 Wahlberechtigten EU-Bürger georgischer Abstammung, die die letzten fünf Jahre in Georgien registriert waren. Unter ihnen auch Oppositionsführer Bidzina Iwanischwili, der trotz vorheriger Äußerungen, von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch machen zu wollen, sich jetzt anscheinend doch dafür entschieden hat, auf diesem Wege die ihm von der Regierung aberkannte Staatsbürgerschaft anzunehmen.

191.890 Wahlberechtigte werden auch von der Zentralen Wahlkommission als „deregistriert“ aufgeführt, da ihre Wohnverhältnisse unklar sind. Dass auch ihnen das Erst- und Zweitstimmrecht zugebilligt wurde, wird von Wahlbeobachtern wie Transparency International oder der georgischen Young Lawyers Association mit großer Sorge betrachtet. In diesen Ungenauigkeiten der Wählerlisten sehen manche Beobachter jetzt schon Gründe, das Wahlergebnis möglicherweise anfechten zu lassen.

Der Wahlkampf hat sich in den letzten Wochen erheblich zugespitzt. Beide Seiten, Regierung und Opposition, übertrafen sich mit heimlich aufgenommen Videos oder Mitschnitten von Telefongesprächen, mit denen sie jeweils die Glaubwürdigkeit der anderen Seite infrage stellten. Höhepunkt waren die Videos über Misshandlungen in georgischen Gefängnissen, die zu Ministerrücktritten und Verhaftungen von Angestellten des Strafvollzuges führten. Die Regierung antwortete auf diesen Coup der Opposition mit Mitschnitten von Telefongesprächen von Mitgliedern der Opposition. Datenschutz und Persönlichkeitsschutz blieben bei diesen unterirdischen Kampagnen ein Fremdwort.

Wesentlich reifer dagegen zeigte sich die Bevölkerung. Während viele Beobachter vor allem in westlichen Botschaften ihre Landsleute davor warnten, auf Wahlkundgebungen zu gehen, da ein „erhöhtes Gewaltpotential“ vor allem bei der Opposition unterstellt wurde, kam es nur gelegentlich zu kleineren Auseinandersetzungen. Selbst die große Abschlusskundgebung der Opposition am Samstag in Tiflis, an der mindestens eine viertel Million Menschen teilgenommen hat, verlief ohne nennenswerte Zwischenfälle. Ein Novum in der Geschichte der jungen georgischen Demokratie. Wenn sich die Politiker nach Auszählung der Wählerstimmen an dieses Verhalten ihrer Anhänger erinnern, könnten sich diese Wahlen, unabhängig von ihrem Ausgang und unabhängig von den Auswüchsen in den TV-Schmutzkampagnen dennoch als ein wesentlicher Fortschritt in der politischen Kultur des Landes erweisen.

Die Kaukasische Post wird am Montag nach Schließung der Wahllokale online regelmäßig über die aktuelle Entwicklung und den Stand der Auszählung berichten.