Parlamentsstipendien und demokratische Kultur

Interview mit der Bundestagsabgeordneten Viola von Cramon

Zusammen mit der Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin, Prof. Dr. Birgitta Schütt, und dem Leiter der Unterabteilung Recht des Deutschen Bundestags, Werner Braun, war Viola von Cramon im September in Tiflis, um die neuen Stipendiaten für das Internationale Parlamentsstipendium des Deutschen Bundestags (IPS) auszuwählen. Das Stipendium dauert vom März bis Juli nächsten Jahres und gibt insgesamt fünf georgischen Hochschulabsolventen die Möglichkeit, sich im Deutschen Bundestag mit den Mechanismen eines demokratischen Parlaments vertraut zu machen. Die Kaukasische Post sprach wenige Tage vor den georgischen Parlamentswahlen mit der Abgeordneten, die der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angehört und Sprecherin für die Auswärtigen Beziehungen der EU ist. In dieser Funktion hat sie schon mehrfach intensiven Kontakt mit den Ländern des Südkaukasus gehabt, insbesondere mit Georgien.

Welche Auswahlkriterien für das IPS sind für Sie besonders wichtig?

Von Cramon: Zunächst einmal möchte ich sagen, dass das Niveau der Bewerberinnen und Bewerber außerordentlich hoch ist. Ich bewundere vor allem die Mehrsprachigkeit der jungen Leute in Georgien, die neben Deutsch meist auch ausgezeichnet Englisch sprechen. Neben diesem Kriterium ist für mich besonders wichtig, ob die Leute auch politisch motiviert sind, ob sie sich gesellschaftlich interessieren und engagieren. Ich habe von allen, die wir gesprochen haben, den Eindruck, dass sie eine genaue Vorstellung von dem haben, was sie in Berlin erwartet, was sie selbst in diesem Stipendium kennen lernen wollen.

Was erwarten Sie von den Stipendiaten, wenn Sie nach fünf Monaten wieder in ihre Heimat zurückkehren?

von Cramon: Im Deutschen Bundestag werden sie hautnah die Vorteile eines Mehrparteiensystems erleben. Sie werden sehen, wie eine starke Opposition, ausgestattet mit starken Rechten und parlamentarischen Instrumenten, in der Lage ist, eine Regierung effektiv zu kontrollieren. Wenn Sie diese Erfahrung mit nach Georgien nehmen und dort in die Gesellschaft einbringen, können sie mit dafür sorgen, dass sich Georgien nicht in ein autoritäres System entwickelt.

Sehen Sie Anzeichen für eine solche Entwicklung?

von Cramon: Natürlich ist das Land eingebettet in eine politische Umgebung, in der autoritäre Tendenzen nichts Ungewöhnliches sind. Das ist aber eine Falle, in die wir nicht hineintappen sollten. Georgien hat in den letzten Jahren ohne Zweifel einen großen Modernisierungsprozess erlebt. Dieser Prozess ist aber von oben verordnet worden, er hat mit einer Reformierung der Gesellschaft nicht viel zu tun. Das Land ist noch immer politisch extrem polarisiert und personalisiert. Dem können die Stipendiaten mit ihrer Erfahrung, die sie in Berlin machen, entgegenwirken.

Sie haben von einer starken Personalisierung gesprochen. Die Alternative bei der Wahl in Georgien ist auch von einer sehr starken Persönlichkeit geprägt, zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung in der Gesellschaft, weniger durch programmatische Alternativen. Wie soll es da zu einer neuen politischen Kultur kommen, eventuell auch zu Koalitionen und Kompromissen?

von Cramon: Das wird natürlich, wenn das Wahlergebnis es zulässt, auch der Lakmustest für die Opposition werden, ob sie in der Lage ist, Koalitionen einzugehen. Erst wenn alle Parteien erkennen, dass sie sich im Wahlkampf zwar als Gegner begegnen, aber nach der Wahl koalitions- und gesprächsfähig sein müssen, dann wird sich die politische Kultur im Land weiter entwickeln können. Dazu werden sich dann beide Seiten auch von Leuten trennen müssen, die das Land polarisieren.

Das klingt aber sehr optimistisch für eine Gesellschaft, die eher einer Führerfigur mit Charisma vertraut als dem Dialog der politischen Kräfte.

von Cramon: Es kann eigentlich nicht sein, dass immer nur eine politische Kraft weiß, was für ein Land gut ist. Das sollten auch die Politiker einsehen, die derzeit die Mehrheit haben. Auch wenn sie viele vernünftige Fortschritte erreicht haben, gilt, die Wähler und Wählerinnen haben selbstverständlich das Recht, auch einer anderen Kraft ihre Stimme zu geben. Dieser Wählerwille muss erkennbar sein. Ich kenne viele fähige Leute in der Regierung und im Parlament. Ich wünsche ihnen aber, dass sie die Angst vor einem Machtverlust überwinden. Ich sehe es durchaus kritisch, mit welchen Mitteln sie massiv versuchen, ihre Macht zu zementieren. Und ich wünsche ihnen allen, Regierung und Opposition, dass sie in der Lage sind, mit einem hoffentlich unverfälschten Wahlergebnis vernünftig umzugehen.

Das Gespräch führte Rainer Kaufmann