Foltervideos lösen politisches Erdbeben in Georgien aus

Hintergründe zu dem Menschenrechtsskandal in georgischen Gefängnissen

Von Rainer Kaufmann

Den Endspurt des Parlamentwahlkampfes – gewählt wird am 1. Oktober – hatten sich der georgische Präsident und seine Partei ganz anders vorgestellt. Aber die Videos über Misshandlungen von Gefangenen in georgischen Gefängnissen haben die politische Szene des Landes in einen Schockzustand versetzt. Saakaschwili sagte alle Wahlkampftermine ab, zum Beispiel die Grundsteinlegung für eines seiner ehrgeizigsten Zukunftsprojekte, die neue Schwarzmeerstadt Lazika, und zeigte sich statt dessen in TV-Ansprachen und einer live übertragenen Sitzung mit Premier Merabischwili mehr als nur verärgert. Sichtlich erregt, beklagte er sich, dass diese Vorgänge alles zunichte machten, was er als neues Georgien aufgebaut habe. Die Schuldigen würden sofort festgenommen und der Präsident sicherte langjährige Haftstrafen zu, eigentlich eine Sache der Gerichte. Allerdings reagierte die Gerichtsbarkeit sofort auf diesen Hinweis des Präsidenten. Die festgenommenen Vollzugsbediensteten sind offenbar in Schnellverfahren bereits abgeurteilt, keine drei Tage nach der Erstausstrahlung der Videos. Zwei Minister mussten ihre Sessel räumen, zehn Tage vor dem Urnengang alles andere als eine Wahlempfehlung.

Die Videos, aufgenommen im Sommer dieses Jahres, wurden erstmals am Dienstag dieser Woche in den der Opposition nahe stehenden TV-Sendern Maestro und TV 9 ausgestrahlt. Sie zeigen nicht nur Prügelszenen, wie sie aus georgischen Gefängnissen schon immer berichtet wurden und eigentlich niemanden in der Gesellschaft wirklich aufregten. Sie zeigen aber auch brutalste Vergewaltigungen von Gefangenen mit Besenstielen und Gummiknüppeln und andere Abscheulichkeiten. Und sie zeigen feist zynisch grinsende Beobachter aus dem Vollzugspersonal. Szenen aus einem nagelneuen Gefängnis, das eigentlich als Vorzeigeknast dienen sollte.

Noch in derselben Nacht versammelten sich vor der Philharmonie – heute Event Hall – einige Hundert Demonstranten, mehr oder weniger spontan organisiert von der Jugendorganisation des Oppositionsbündnisses „Georgischer Traum“. Improvisierte Transparente und Plakate, Straßenblockaden und teilweise wütende Protest-Statements, aber keine Ausschreitungen, keine Polizei weit und breit. Dafür nahmen mehr als zwei Dutzend Priester an der Demonstration teil, einige von ihnen aus dem höheren Klerus des Patriarchats, dem man schon seit längerem ein deutlich abgekühltes Verhältnis zu Regierung nachsagt, dafür aber eine gewisse Nähe zum Oppositionsführer Bidsina Iwanischwili. Die Kirche zeigte sich zum ersten Mal ganz offen bei einer politischen Protestaktion. Ein Signal, das bei dem gesellschaftlichen Einfluss der Orthodoxie seine Wirkung nicht verfehlen wird.

Der Gefängnisskandal hat nach wenigen Stunden das Wahlkampfklima verändert. Die Vereinte Nationale Bewegung (United National Movement – UNM), die bisherige Mehrheitspartei, ist in der Defensive. Hatte Micheil Saakaschwili bis zu diesem Tag versucht, sich mit einer landesweiten Einweihungstournee unzähliger Prestigeprojekte, die in den letzten Monaten das halbe Land in eine Dauerbaustelle verwandelt hatten, als der Erneuerer und Modernisierer Georgiens darzustellen, war plötzlich Krisenmanagement gefragt. Der propagandistische Gegenschlag, die Opposition hätte diese Videos für teures Geld in Auftrag gegeben, wenn nicht sogar inszeniert, verpuffte zunächst.

Die für die Gefängnisse zuständige Ministerin Chatuna Kalmachelidse, völlig schockiert über die Vorgänge, von denen sie nichts gewusst haben will, musste sofort zurücktreten. Allerdings wollen in Tiflis Gerüchte nicht enden, dass sie selbst immer wieder Krankenbesuche gemacht habe, um misshandelte Gefangene gegen Nachlass der Haftzeit zum Schweigen zu überreden. Zu ihrem Nachfolger wurde ausgerechnet Giorgi Tuguschi, der Ombudsmann, ernannt, der als einer der schärfsten Kritiker des Strafvollzuges in Georgien gilt. In unzähligen Berichten hat er immer wieder Misshandlungen in Gefängnissen angeprangert, meist ohne eine angemessene Reaktion der Regierung oder des Generalstaatsanwalts. Gleich nach der Veröffentlichung der Videos hatte er noch erklärt, das seien keine Einzelfälle, sondern System und das in mehreren Gefängnissen des Landes. Saakaschwili musste auf öffentlichen Druck den Mann zum Strafvollzugsminister ernennen, dessen Berichte er und seine Regierung bislang stets ignorierten, weil sie nicht in das Bild vom modernen Georgien passten. Und der neue Chef des georgischen Strafvollzuges ließ sich vom Präsidenten ausdrücklich völlige Freiheit in seiner Amtsführung zusichern.

Die Ernennung Tuguschis ist vielleicht ein kluger Schachzug des Präsidenten, wird aber kaum als Befreiungsschlag bewertet. Denn ausgerechnet Giga Bokeria, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsrats und Mitglied im engsten Machtzirkel von Regierung und Regierungspartei, erklärte, es sei ein Fehler der Behörden gewesen, die Signale des Ombudsmanns und anderer Organisationen nicht ernst genommen zu haben. Die erste selbstkritische Stellungnahme aus dem Regierungsapparat, der durch diesen Skandal wohl deutliche Risse bekommen hat. Die Personalie Tuguschi wird von vielen Beobachtern in Tiflis eher als Schwäche interpretiert denn als ein Zeichen kraftvollen Krisenmanagements.

Der zweite Ministerwechsel zeigt noch deutlicher, dass der Präsident und sein Apparat in die Defensive gedrängt wurden. Der vor wenigen Wochen erst aus dem Verteidigungsministerium ins Innenministerium beförderte Bacho Achalaia, war ebenfalls nicht mehr haltbar. Achalaias Rücktritt war eine der Forderungen der Demonstranten. Medienberichten zufolge habe er kurz nach seiner Abdankung das Land verlassen. Neue Innenministerin wurde mit Eka Sguladse eine ausgewiesene Vertraute von Wano Merabischwili, lange Jahre Innenminister und starker Mann der Regierung. Seine Beförderung zum Premierminister wurde damals von vielen als eine deutliche Zurückstufung im Machtzirkel interpretiert. Merabischwili dürfte mit dieser Personalentscheidung wieder die volle Kontrolle über den internen Sicherheitsapparat zurück gewonnen haben, eine wichtige Entwicklung, hatte doch Achalaia nach seiner Ernennung die Spitzen des Innenministeriums von nahezu allen Vertrauten Merabischwilis gesäubert. Saakaschwili hat Merabischwili auch die politische Verantwortung für die Aufarbeitung des Gefängnisskandals übertragen. Im zu erwartenden Machtpoker nach den Wahlen muss man ihn jetzt wieder als eine der zentralen Figuren einschätzen.

Nach diesem Skandal ist in der georgischen Politik nichts mehr, wie es vorher war. Der Präsident, bis dato unangefochtene Autorität im Regierungslager, ist angeschlagen. Seine Partei, die bisher nahezu monolithisch aufgetreten war, zeigt erstmals öffentlich Zerfallserscheinungen. Aus einigen Provinzen des Landes wird berichtet, dass Bürgermeister und lokale Größen, die bislang dem Regierungsblock zuzurechnen waren, sich eindeutig für das Oppositionsbündnis Georgischer Traum erklärt haben. Noch verheerender dürfte die Reaktion des Auslands sein. Das Image eines rechtsstaatlich handelnden Reformers, das sich Saakaschwili immer wieder zuschreiben ließ, ist deutlich angekratzt. Politiker und Regierungen aus Europa und Übersee sind deutlich auf Distanz gegangen trotz aller Erfolge, die diese Regierung bei der Bekämpfung von Korruption und Kriminalität, aber auch auf dem Gebiet der Steuereintreibung zu verweisen hat.

Zumindest bis zu den Wahlen am 1. Oktober werden die Straßenproteste nicht abebben, wenngleich die in ausländischen Medien genannten Zahlen von Zehntausenden von Demonstranten hoffnungslos übertrieben sind. Auch in der zweiten Demonstrationsnacht waren in Tiflis kaum mehr als 1.000 Menschen auf der Straße. Von Unruhen in Georgien zu reden, ist alles andere als angemessen. Demonstrationen gegen Menschenrechtsverletzungen zeugen eher von einer Politisierung der Gesellschaft in demokratischem Sinn. Fakt ist aber: Das Oppositionsbündnis hat ein alles überragendes Wahlkampfthema geschenkt bekommen und neue Verbündete. Die Zeit bis zum 1. Oktober und vor allem die Zeit danach versprechen einiges an Spannung und Aufregung.

Fotos: Götz-Martin Rosin

Update 1 Freitag

Eine bemerkenswerte Reaktion kam vom Oppositionsführer Bidsina Iwanischwili, der erklärte, neben Opfern dieser Foltereien müsse man aber auch in den Tätern Opfer sehen, Opfer des Systems.

Außerdem wurde bekannt, dass der Patriarch anscheinend seit längerer Zeit die Regierung auf die Missstände im Strafvollzu aufmerksam gemacht hat.

Am Freitag demonstrierten rund 3.000 Menschen vor dem Gefängnis im Stadtteil Gldani, in dem die Videos aufgenommen wurden.

Außerdem verstärken sich die Hinweise, dass in der nächsten Woche wohl noch mehr Videos veröffentlicht werden sollen.

Der frühere Präsident Eduard Schewardnadse äußerte sich bestürzt über die Vorfälle: „Ich wünschte, ich hätte das nicht mehr erleben müssen.“

Das Gefängnis in Gldani wurde am Nachmittag für Journalisten geöffnet, die mit den Gefangenen reden konnten.

Für heute Abend sind wieder Demonstrationen vor der Event Hall angkündigt.

Update 2 Samstag

Das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche, Patriarch Ilia II, hat die Bevölkerung des Landes dazu aufgerufen, die beschämenden Ereignisse in den Gefängnissen nicht dazu auszunutzen, weiteren Schaden für das Land zu generieren. Er rief vor allem die Studenten auf, ihre Proteste einzustellen, um so einen ordnungsgemäßen Verlauf der Parlamentswahlen am 1. Oktober nicht zu gefährden. Die Demonstranten vor der Event Hall haben diesen Appell offensichtlich positiv aufgenommen und die Demonstration gestern abend frühzeitig beendet und die Straßenblockade früher als in den Tagen zuvor beendet.

Präsident Micheil Saakaschwili hatte zuvor bei der Einweihung des neuen Bürgerhauses in Tiflis erklärt, die Veröffentlichung der Videos sei eine Konspiration gegen Georgien, inszeniert mit „russischem Geld“ und dem möglichen Ziel, Georgien in das russische Imperium zurück zu zwingen.

Oppositionsführer Bidsina Iwanischwili hatte zuvor den Rücktritt des Präsidenten gefordert, um so die Würde der georgischen Regierung wieder herzustellen.