Oerlinghausen und die georgische Visafreiheit

Über eine WDR-Meldung, ihre Vorgeschichte und ihre Folgen

Anfang Februar überschlugen sich die Medien in Deutschland und Georgien mit Meldungen, das Land Nordrhein-Westfalen habe den Bundesinnenminister aufgefordert, die Visafreiheit für Georgien aufzuheben. Wörtlich hieß es in der Meldung: „Die NRW-Landesregierung will sich nach WDR-Informationen dafür einsetzen, dass bundesweit die Visafreiheit für Georgier gekippt wird.“ Ein Paukenschlag, der so gar nicht zu den eher zurückhaltenden Informationen und Kommentaren aus Brüssel passte, als man sich kurz vor Jahreswechsel erstmals mit der Entwicklung der Asylanträge seit Einführung der Reisefreiheit für Georgien in die EU befasste und den so genannten Aussetzungsmechanismus zunächst einmal nicht in Erwägung gezogen hatte. (Die KaPost berichtete). Allerdings waren auch da Hinweise nicht zu übersehen, dass sich Georgien um eine verbesserte Kooperation mit der EU in Sachen visafreiem Reiseverkehr zu bemühen hätte, ein erster Warnschuss

Und dann der Hammer aus Düsseldorf. In einem Schreiben an Bundes-Innenminister de Maiziere, das der KaPost vorliegt, erklärte der NRW-Integrationsminister Joachim Stamp: „Seit Einführung der Visafreiheit hat die Zahl der Asylsuchenden aus Georgien bundesweit deutlich zugenommen. Kamen im Januar 2017 noch 170 Asylsuchende aus Georgien nach Deutschland, so waren es im Dezember 2017 bereits 743 Personen. Von dieser Entwicklung ist Nordrhein-Westfalen in besonderer Weise betroffen. Im Januar 2017 hatte Nordrhein-Westfalen 43 und im Dezember bereits 172 Personen aufzunehmen.“ Dies habe zu einer Steigerung der Kriminalität und damit auch zu erhöhten Sicherheitsrisiken für die Bevölkerung geführt. „Vor diesem Hintergrund sehe ich die dringende Notwendigkeit, auf europäischer Ebene tätig zu werden und die mit der Visafreiheit verbundenen Erleichterungen der Einreise innerhalb der EU mit Blick auf mögliche Auswirkungen für die innere Sicherheit Deutschlands so schnell wie möglich zu überprüfen.“ Die Medien übernahmen unisono prompt die Schlussfolgerung des WDR, die Landesregierung in Düsseldorf wolle die Visafreiheit für Georgien kippen, eine Version, die der Minister und sein Staatssekretär in mehreren Statements in verchiedenen Medien allerdings untermauerten.

Schon ein Blick auf die Zahlen zeigt, dass der NRW-Minister mit der Statistik äußerst selektiv vorgegangen ist, indem er zwei einzelne Monate mit extremen Zahlen miteinander verglichen hat. Vergleicht man die georgischen Asylanträge der Jahre 2016 und 2017 für NRW und den Bund, zeigt sich ein anderes Bild. Nach einer Statistik, die wir von der Pressestelle desselben Ministeriums, des Ministeriums für Kinder, Familien, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) des Landes Nordrhein-Westfalen erhalten haben, gingen in NRW die Asylanträge aus Georgien im Jahr 2017 sogar zurück und zwar von 1.192 auf 933. Eine Auskunft, die auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bestätigt. Demnach gingen im Jahr 2017 bundesweit die Asylanträge aus Georgien von 3.771 (2016) zurück auf 3.462, ein Minus von acht Prozent. Europaweit erhöhte sich die Zahl der Asylanträge im Jahr 2017 dagegen um 35 Prozent, wie die Asylagentur der Europäischen Union erklärte. Allerdings sei in der EU die Gesamtzahl der Asylbewerber aus aller Welt um die Hälfte zurückgegangen. Daher gibt Brüssel eher Entwarnung.

Die Aktion des Düsseldorfer Ministers dürfte jedoch einen eindeutig lokalen Hintergrund haben, wie man aus verschiedenen WDR-Meldungen in diesem Zusammenhang leicht herauslesen kann. Das hat vor allem mit den anscheinend katastrophalen Verhältnissen im Flüchtlingsheim Oerlinghausen zu tun, in dem derzeit rund 400 Menschen untergebracht sind, darunter viele Georgier. Zwei Drittel kamen aus einer anderen Unterkunft für Asylbewerber mit geringer Bleibe-Perspektive, die im April letzten Jahres geschlossen wurde. Das Heim scheint völlig überfordert und in einem hoffnungslosen Zustand zu sein. Bemängelt wurden – nach einer weiteren WDR-Meldung – unter anderem eine Überbelegung der Zimmer, schlechte sanitäre Verhältnisse und eine unzureichende  medizinische Versorgung. Die „Flüchtlingshilfe Lippe“ hatte aus diesen Gründen wohl ihre Arbeit in der Unterkunft eingestellt.

Eine Folge dieser Überbelegung: eine erhöhte Rate von Ladendiebstählen und Wohnungseinbrüchen in der Umgebung, was wiederum zu erhöhten Kontrollaktivitäten der örtlichen Polizei führte und zu heftigen Beschwerden der Anwohner. Und damit zu einer intensiven Berichterstattung nahezu aller Medien in NRW, obwohl immer wieder betont wurde, dass es an belastbaren Beweisen für entsprechende Taten mangele, ein Problem der Ermittlungsbehörden und der Justiz. Das Ministerium geriet durch die intensive Berichterstattung offensichtlich unter Handlungsdruck. Aufgeschreckt von der lokalen Verwaltung hatte schon im Januar der Staatssekretär des Integrations-Ministeriums, Andreas Bothe, das Flüchtlingsheim besucht und dort auch eine Petition der Asylsuchenden nach „menschenwürdigerem Umgang“ mit ihnen entgegengenommen. Darin forderten die Flüchtlinge auch, dass die „Flüchtlingshilfe Lippe“ weiter vor Ort bleiben soll. Dazu hieß es in einer weiteren WDR-Meldung vom Januar: „Ob und wie der Verein weiter macht, wird zurzeit noch beraten. Bisher sind sich die Landesregierung und der Verein aber noch nicht einig geworden“. Dringend notwendige Bemühungen um Integration oder auch nur soziale Betreuung scheiterten anscheinend daran, dass sich ein Träger der Sozialarbeit nicht mit dem zuständigen Ministerium über die Bedingungen dieser Tätigkeit einigen konnten.

Der Staatssekretär, der bei seinem vierstündigen Aufenthalt mit allen Beteiligten gesprochen hatte, sagte damals den Bewohnern des Heimes zu, ihre Forderungen genau zu  prüfen. Um die Situation in der Flüchtlingsunterkunft zu verbessern, werde nach Analyse der gewonnen Informationen über weitere Maßnahmen nachgedacht, wird Boethe in der Meldung zitiert. So werde beispielsweise erwogen, die Zusammensetzung der Bewohner neu zu regeln. War dann eine der Maßnahmen,  die Probleme in Oerlinghausen zu lösen, der Brief des Düsseldorfer Ministers an den geschäftsführenden Innenminister in Berlin? Dort zeigte man Verständnis für das Düsseldorfer Begehren, wollte aber – wohl auch wegen der Regierungskrise in Berlin – vorerst keine konkreten Schritte benennen.

In Georgien dagegen hat das Vorpreschen der NRW-Regierung heftigste Aktivitäten ausgelöst, unter anderem eine Krisensitzung der beteiligten Ministerien, einberufen von Premierminister Kwirikaschwili. Man beschloss einige Sofortmaßnahmen. So sollen Reisende, die wegen unzulänglicher Papiere oder eines negativ beschiedenen Asylantrags vom Einreiseland abgewiesen werden, ihre Kosten für den Rücktransport oder die Rückführung künftig ausnahmslos selbst bezahlen müssen. Auch sollen die gesetzlichen Regelungen zur Änderung des Familiennamens deutlich erschwert und somit eine Identifikation des Reisenden durch die Behörden in den Schengenländern erleichtert werden. Darüber hinaus sollen die Kontrollen an den georgischen Flughäfen verstärkt werden, um zu überprüfen, ob Reisende auch alle für den visafreien Reiseverkehr notwendigen Unterlagen mit sich führen.

Auf Anordnung des Premierministers wird sich überdies der Innenminister Georgiens um eine weitere Intensivierung der bilateralen Zusammenarbeit mit allen EU-Partnerländern bemühen. Im Mittelpunkt soll dabei die weitere Verbesserung bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität stehen. Hierfür wird der georgische Innenminister in den nächsten Wochen eine Reihe von EU-Mitgliedsstaaten persönlich besuchen. In Georgien selbst wurde bereits eine intensive Informations-Kampagne zu dem Thema gestartet. Die öffentlichen Appelle seitens georgischer Behörden sind seit Tagen so deutlich und unmissverständlich wie nie zuvor: Jeder, der aus persönlichen Gründen die Möglichkeiten der Reisefreiheit missbraucht, gefährdet diese Errungenschaft für viele andere Menschen im Lande. So hat die Medien-Hysterie um den Brief des NRW-Ministers wenigstens in Georgien eine positive Reaktion der zuständigen Behörden gezeigt.

Das Thema Asylmissbrauch im Rahmen des visafreien Reiseverkehrs nach Europa ist demnach erkannt. Ein anderes Thema könnte demnächst aufkommen, das Thema Schwarzarbeit. An der georgischen Graswurzel erzählt man sich, es gäbe längst Vermittlungsagenturen, die über georgische Netzwerke in Deutschland für die Dauer von 90 Tagen Jobs organisierten, selbstredend schwarz und völlig unterbezahlt. Aber trotz Kosten für Flugticket und Vermittlungsprovision würde der Verdienst ausreichen, eine Familie in Georgien über mehrere Monate zu ernähren. Eine ganz besonders intelligente Variante von Sozialhilfe?

Am Flughafen Memmingen wurden in den letzten Wochen bei zwei Sonderkontrollen insgesamt 33 Georgiern die Einreise in die Bundesrepublik verweigert. Die Begründung der bayerischen Polizei: offenkundig missbräuchliche Ausnutzung des Touristenprivilegs.

Rainer Kaufmann