Die Zeit der großen Konfrontationen ist vorbei

Georgien vor den Wahlen – Parteien und Wähler wirken eher ermüdet
Am 8. Oktober wird in Georgien ein neues Parlament gewählt und alles ist völlig anders als noch vor vier Jahren. Damals standen sich mit Mikhail Saakaschwili und seinem Herausforderer, dem Milliardär und Mäzen Bidsina Iwanischwili, zwei mächtige Führungsfiguren gegenüber, die das Land spalteten und Hunderttausende zu Massendemonstrationen auf die Straße brachten. Beide Gallionsfiguren von damals agieren derzeit nur aus dem Hintergrund. Saakaschwili hat vor ein paar Jahren die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen und ist dort Gouverneur von Odessa. In seinem Geburtsland wird er per Haftbefehl gesucht. Trotzdem greift er mit Videobotschaften auf einem seiner vielen Facebook-Konten immer wieder in den Wahlkampf ein. Iwanischwili, vor vier Jahren noch zum Ministerpräsidenten gewählt, trat ein Jahr später schon zurück, um als alles überwachender Kopf im Hintergrund die Regierungsarbeit zu koordinieren und immer wieder mit öffentlichen Äußerungen kritisch zu begleiten. Jetzt im Wahlkampf tritt er wieder verstärkt in Erscheinung, bereist alle Regionen des Landes, um dort in Regional-Pressekonferenzen für seine Partei, Georgischer Traum – Demokratisches Georgien (kurz: GDDG), Stimmung zu machen. Politische Programme, Strategien oder große Visionen sind aber allenthalben Fehlanzeige. Viel mehr als kleine, persönliche Scharmützel, die man nicht annähernd mit den Schlammschlachten andernorts, zum Beispiel in Amerika, vergleichen könnte, findet nicht statt. Die Georgier, so muss man konstatieren, sind der großen Auseinandersetzungen überdrüssig, sind nach Jahrzehnten innenpolitischer Konfrontationen politisch eher gleichgültig geworden oder müde. Das gilt für alle Akteure, die Regierung, die kaum vorhandene Opposition und vor allem für die Bevölkerung. Dies, obwohl die wirtschaftliche Lage im Lande nicht allzu rosig erscheint. Von den vom Georgischen Traum vor vier Jahren versprochenen Tausenden von neuen Arbeitsplätzen wurde nur ein bescheidener Anteil realisiert. Die georgische Währung, der Lari, hat in den letzten beiden Jahren eine Abwertung von rund 30 Prozent hinnehmen müssen. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich, die Exporte sinken, die Importe steigen und damit das Außenhandelsdefizit. Die Arbeitslosenquote liegt statistisch irgendwo zwischen zehn und 20 Prozent. Real betrachtet sind aber mindestens 40 Prozent der Menschen ohne Beschäftigung. Vor allem die ländliche Bevölkerung, die statistisch nahezu komplett als selbständige Landwirte geführt wird, hat sich anscheinend mit einem Leben ganz nahe an der Armutsgrenze abgefunden.

Noch nicht einmal das große politische Thema der letzten Jahre, die West-Orientierung Georgiens mit all ihren Auswirkungen auf das mehr als schwierige Verhältnis zum großen Nachbarn Russland wird angesprochen. Die EU- und NATO-Euphorie hat sich nach den ernüchternden Ergebnissen des letzten Jahres zwar deutlich gelegt, ohne dass aber etwaige Befürworter eines eher neutralen Kurses oder gar einer Wieder-Annäherung an Russland daraus Nutzen ziehen könnten. Die von Georgien eingeforderte Zusage einer NATO-Mitgliedschaft oder eines verbindlichen Membership Action Plans (MAP) ist seit dem Warschauer NATO-Gipfel vom vergangenen Jahr erst einmal für lange Zeit vom Tisch. Mehr als eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Georgien und der NATO, ein so genanntes „Substanzielles Paket“, ist nicht herausgekommen, was auch immer man unter diesem dehnbaren Begriff verstehen mag. Die NATO zieht es erst einmal vor, ihr eigenes angespanntes Verhältnis zu Russland nicht zusätzlich mit dem Thema Georgien zu belasten.

Das Assoziierungsabkommen mit der EU ist zwar seit 1. Juli in Kraft getreten, kurzfristige wirtschaftliche Erfolge können daraus aber kaum abgeleitet oder für Wahlkampfzwecke eingesetzt werden. Denn jetzt steht erst einmal der schmerzhafte Prozess, all die geforderten EU-Standards im Land einzuführen, an. Und mit dem Thema Visa-Liberalisierung für den Schengen-Raum, das die Regierung den Bürgern seit Jahren immer als großen Erfolg angekündigt hat, der kurz bevorstehe, wird man sich bis nach den Wahlen gedulden müssen. Die Mühlen der EU-internen Abstimmungsprozeduren nimmt auf einen Wahltermin in Georgien wenig Rücksicht.

So findet der Wahlkampf hauptsächlich mit Großplakaten der Kandidaten auf allen Straßen statt, bei denen die Regierungspartei fast allein und allgegenwärtig scheint. Und in TV-Spots, die auch mehr der Stimmungsmache dienen als der Information über politische Programme. Es fehlen allen Parteien nahezu alle außen- und innenpolitischen Symbol-Themen für eine wirklich interessante und die Wählerschaft mobilisierende Auseinandersetzung.

Dafür bieten die Parteien – 45 Parteien wurden zur Wahl zugelassen – jede Menge an Personalien, die eher amüsant als politisch bedeutend anmuten. Paata Burdschuladse zum Beispiel, als Opernsänger auf allen großen Bühnen der Welt zu Hause, stellt sich mit einer eigenen Partei „Der Staat für das Volk“ zur Wahl. Da er aber nach eher deprimierenden Wählerumfragen eine Listenverbindung mit anderen Parteien eingehen musste, sind ihm mitten im Wahlkampf einige seiner prominentesten Mitstreiter abhanden gekommen. Viel mehr ist aus seinem Lager nicht zu vernehmen. Burdschladse, vor einigen Monaten noch als bedeutender Newcomer und Hoffnungsträger in der georgischen Politik gefeiert, wird mittlerweile kaum noch zugetraut, die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden.

Die UNM (United National Movement), die frühere Regierungspartei Mikhail Saakaschwilis und heutige Opposition, sorgte für die größte Überraschung, als sie Sandra Roelofs, die Frau Saakaschwilis, zur Direktkandidatin in einem Wahlkreis im mingrelischen Sugdidi ernannte. Mehr noch, einen Tag später hat die Partei ihre bereits seit Wochen verabschiedete Landesliste noch einmal verändert und Sandra Roelofs auf dem zweiten Platz nominiert. Die gebürtige Holländerin wird somit auf jeden Fall dem neuen Parlament angehören und damit – für viele Beobachter überraschend – eine eigene politische Karriere beginnen. Es sei eine schwere Entscheidung gewesen, sagte sie vor Parteianhängern in der Provinz, aber sie wolle nach vier Jahren Stillstand in Georgien, verursacht durch die Regierung des Georgischen Traums, nicht mehr schweigende Zuschauerin sein. Viele Menschen hätten sie gewarnt: „Gehe nicht in die Politik, sie ist voll von Verleumdungen, Skandalen und Schmutz.“ Ihre Antwort darauf: „Ja, ich weiß, und ich bin besorgt darüber. Aber ich mache mir mehr Sorgen, dass das Georgien von der Landkarte verschwindet. Wollen wir das?“So viel Edelmut war selten in der georgischen Politik.

Besonders pikant sind ihre Anmerkungen zur Regierungszeit ihres Ehemanns: „Ich habe zu Mischa oft gesagt, dass die schlechten Dinge, die passiert sind, sich niemals wiederholen dürfen. Und glauben Sie mir, ich würde nicht hier stehen, wenn ich mir darin nicht sicher wäre.“ Immerhin, das bisher wohl einzige Zugeständnis einer Führungsfigur der UNM, dass zu deren Regierungszeit doch manches nicht immer in Ordnung war.

Gelegenheit, sich mit den neun Jahren Präsidentschaft Saakaschwilis näher zu beschäftigen, gab es dagegen in einer TV-Serie, produziert vom Georgian Dream Studio. In ihr zeigt der Filmemacher Goga Khaindrava alle Abgründe der Saakaschwili-Zeit: Prügelnde Gefängnis-Beamte, heimlich gefilmte Sexszenen zur Erpressung von Kritikern, einen schnüffelnden Präsidenten und so manche andere pikante Szene aus seinem Privatleben. Bis zum Wahltag anscheinend eine ganz subtile Form der Wahlwerbung. Die Idee zu diesem Film-Opus hatte im Jahr 2015 kein Geringerer als der Wahlsieger des Jahres 2012 Bidsina Iwanischwili. Jetzt tritt er im Wahlkampf auf mit der Bemerkung, seine Frau hätte den Film vor Abscheu nicht anschauen können, er selbst könne nicht ohne Tränen in den Augen darüber reden. Trotzdem, der Film sei wichtig, damit die Jugend begreife, was einmal war, und sich reiflich überlege, wem sie Regierungsverantwortung übergibt. Soviel moralinsaure Dramaturgie war auch selten. Zumal die Justizorgane vier Jahre lang Zeit hatten, einige Tausend Strafanzeigen gegen Vertreter der früheren Regierung abzuarbeiten, was Iwanischwili vor vier Jahren versprochen hatte. Geschehen ist, außer einigen wenigen prominenten Fällen, nahezu nichts.

Jetzt vermeldet die georgischen Generalstaatsanwaltschaft einen neuen Ermittlungserfolg und hat vier frühere Staatsbedienstete werden Ereignisse um Massen-Demonstrationen gegen Saakaschwili im Mai 2011 angeklagt. Saakaschwili hatte die Demonstrationen damals brutal niederschlagen lassen. Es gab Tote und viele Verletzte. Rechtzeitig zum Wahltermin des Jahres 2016 zeigt die Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit Video-Beweise, in denen die Verantwortlichen für diesen Polizeieinsatz, hohe Beamte der Saakaschwili-Regierung, eindeutig rechtswidrige Befehle erteilen. Eine zufällige Zeitabfolge? Mangels eigener Erfolge und klarer Programmatik schlägt die Regierungsmehrheit noch einmal die Wahlschlacht von vor vier Jahren nach dem Motto: Alles nur nicht mehr UNM.

Der Georgische Traum, der vor vier Jahren noch in einer Koalition mit mehreren anderen Oppositionsparteien angetreten ist, ist in diesem Jahr auf sich alleine gestellt. Die wichtigsten Koalitionspartner „Freie Demokraten“ unter dem früheren Verteidigungsminister Irakli Alasania und die „Republikaner“ mit ihrem Vorsitzenden Davit Usupaschwili, derzeit amtierender Parlamentspräsident, treten mit eigenen Listen an. Während man den Freien Demokraten durchaus zutrauen kann, wieder im neuen Parlament vertreten zu sein, dürften es die Republikaner, die einzige Partei, die es – im Untergrund freilich – schon zu Sowjetzeiten gab, schwer haben. Dasselbe gilt für alle anderen Parteien, zum Beispiel für die „Demokratische Bewegung“ unter der Führung der früheren Parlamentspräsidentin Nino Burdschanadse. Sie tritt als einzige nennenswerte politische Kraft für eine neutrale, blockfreie Position Georgiens ein, was sie sogar in der Verfassung verankert sehen möchte, und pflegt seit Monaten intensive persönliche Kontakte zum Kreml. Am Ergebnis dieser Partei wird abzulesen sein, ob es in den nächsten Jahren wirklich noch einmal zu einer intensiven politischen Debatte über die künftige außenpolitische Position Georgiens kommen kann.

In den Umfragen liegen die beiden größten Parteien, der Georgische Traum und die UNM, unangefochten vorne, allerdings mit Quoten von unter 30 Prozent. Manche Prognosen sehen beide sogar unter 20 Prozent. Trotzdem verspricht sich Bidsina Iwanischwili, der große Stratege im Hintergrund der Regierungspartei, eine Mehrheit von deutlich mehr als 50 Prozent, er schwärmte dieser Tage sogar von einer verfassungsändernden Mehrheit für seine Partei. Auszuschließen ist das nicht, denn rund die Hälfte der Mandate werden unabhängig vom Ergebnis der landesweiten Verhältniswahl in Direkt-Wahlkreisen vergeben. Und da kann man nur wenigen Parteien Erfolgsaussichten attestieren. Die Regierung rechnet fest damit, dass sie die überwiegende Mehrheit dieser Mandate erringt. Allerdings: Im ersten Wahlgang ist das Quorum für ein Direktmandat bei 50 Prozent der abgegebenen Stimmen. Es ist damit zu rechnen, dass es in den meisten Wahlkreise zu einem zweiten Urnengang kommen wird, der spätestens 25 Tage nach dem ersten Wahltag statt zu finden hat. Es kann also bis in den November hinein dauern, bis die endgültige Sitzverteilung im georgischen Parlament feststeht und damit die Antwort auf die Frage, ob sich die Regierungspartei nach den Wahlen einen Koalitionspartner suchen muss.
                                                                                                                   Rainer Kaufmann