Prozess der demokratischen Transformation dauert Generationen

Ka-Post-Gespräch mit dem scheidenden Deutschen Botschafter Ortwin Hennig

Der deutsche Botschafter Ortwin Hennig hat am 9. Juni seine Dienstzeit in Georgien beendet und kehrt nach Deutschland zurück, in den Ruhestand. In einem Gespräch mit KaPost-Herausgeber Rainer Kaufmann zieht er eine Bilanz seiner Tätigkeit im Südkaukasus.

Fangen wir eher belanglos an. Was nehmen Sie persönlich an Erfahrungen mit aus diesen Jahren in Georgien mit in den Ruhestand?

Es waren fünf faszinierende, erfüllte Jahre. Nicht nur ist dieses Land wunderschön. Vor allen Dingen seine Menschen sind liebenswürdig, freundlich, besonders deutschfreundlich. Ich nehme also auch die Erinnerung an sehr sympathische, freundliche Menschen mit, von denen einige Freunde geworden sind. Es waren aber auch deshalb fünf hochinteressante Jahre, weil in diesem Land Politik passiert. Die georgische Gesellschaft habe ich immer als wahnsinnig dynamisch empfunden. Und alles das, was hier passiert an Politik, interessiert – ich bin hier bescheiden – bis zu einem gewissen Grade in unseren Hauptstädten.

Was sind die spannenden politischen Entwicklungen?
Diese Gesellschaft ist natürlich im Prozess der demokratischen Transformation begriffen. Ich sage bewusst, dass wir es hier mit einem Prozess zu tun haben. Will sagen, wir sind noch nicht am Ende dieses Prozesses angekommen. Dieses Land kommt aus seinen ureigensten kulturellen, historischen, sozialen und religiösen Traditionen plus 70 Jahre Sowjetkommunismus und ist jetzt seit der zweiten Unabhängigkeit in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts dabei, sich demokratischen Standards anzunähern. Der Prozess dauert, er läuft, er kann auch nicht „par Ordre de Mufti“ über Nacht dekretiert werden. Ich glaube, wir haben eine weite, weite Wegstrecke zurückgelegt, aber wir sind natürlich noch nicht am Ziel angelangt. Ich halte diese Entwicklung für eine Generationenaufgabe.

Wenn ich das an einem konkreten Beispiel klar machen will, der Frage nämlich nach der Freiheit oder Unabhängigkeit der Justiz, eine Frage, die ja auch ganz wichtig für die Demokratie-Entwicklung ist. Mein Eindruck ist, man hat Mitte der 90er Jahre erstmals in diesem Land vom Konzept der Unabhängigkeit der Justiz gehört. Ich erinnere an die großartige Arbeit der GTZ/GIZ-Rechtsberatung. Aber so etwas entwickelt sich an den Schulen, setzt sich an den Universitäten fort. Es setzt auch eine mentale Bedingtheit der Richter voraus, die lernen müssen, dass sie eine unabhängige Macht im Staate sind und sich nicht von den Autoritäten Urteile vorschreiben lassen dürfen. Das sind alles Entwicklungen, die auch in unseren demokratischen Gesellschaften Jahrzehnte gedauert haben mit allem Auf und Ab. Und in einem solchen Prozess befindet sich Georgien.

Diese Entwicklung wurde unter Schewardnadse eingeleitet und wurde dann abrupt beendet. Gibt es jetzt wirklich neue Chancen?

Ja, dieses Land hat die Chance hin zur Vollendung des Weges der demokratischen Transformation, wobei Demokratie immer ein Prozess ist. Aber wir sind erst 20 Jahre in diesem Prozess, das ist eine halbe Generation. Und man bemüht sich. Dieses Land möchte nach Europa. Wir nehmen es erst einmal beim Wort. Ich glaube das. Nur das geht eben nicht über Nacht. Aber mit der politischen und moralischen und teilweise natürlich auch finanziellen Unterstützung aus Europa bin ich optimistisch, dass diese Entwicklung eines Tages erfolgreich gelingen wird.

 

Was verstehen Sie unter erfolgreich? Vollmitgliedschaft in der EU? Die steht derzeit kaum noch zur Diskussion. Es gibt erste Enttäuschungen. Wie schätzen Sie da die Situation der EU ein? Kann EU-Europa alles erfüllen, was sich Georgier wünschen und dies vor allem über Nacht?

Erste Enttäuschungen, ja. Aus meiner Sicht liegt ein Teil der Enttäuschungen auch im Erwartungsmanagement der politischen Elite des Landes. Das hätte natürlich anders laufen können. Georgien hat mit der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens vor einem Jahr die europäische Perspektive erhalten. Deshalb verstehe ich nicht die Ungeduld, die überhaupt ein Merkmal georgischer Politik ist, mit der jetzt die georgische Seite vor Riga darauf gedrängt hat, diese europäische Perspektive in die Dokumente hineinzuschreiben. Das würde dazu führen, dass wir in Europa jetzt eine Erweiterungsdiskussion hätten. Dies will niemand zum jetzigen Zeitpunkt. Deshalb hätte ich mir gewünscht, dass Georgien sagt, wir haben diesen Schritt der Integration in die Strukturen gemacht. Mit jedem Schritt der Umsetzung dieses Abkommens wird diese Integration in die europäischen Strukturen tiefer. Am Ende der Implementierungsphase, die natürlich Jahre dauert, stellt sich dann die Frage der Vollmitgliedschaft neu. Die wird dann im Lichte der Umsetzungsergebnisse des Abkommens und der dann in Europa, in Brüssel vorherrschenden politischen Lage entschieden.

Geht es nicht vielleicht um ein generelles Missverständnis. Für Georgien ist die Assoziierung der Türöffner zur Vollmitgliedschaft. Dagegen kann man den Eindruck haben, dass zumindest einige in der EU die Assoziierung gerade als das Gegenteil ansehen, als Trostpflaster. Wie kann man diesen Widerspruch auflösen?

Das wird an der praktisch-pragmatischen Politik und der Umsetzung des Assoziierungsabkommens aufzulösen sein. Das ist klar und ich glaube, die politische Führung in Georgien weiß ganz genau, dass für einen Teil der europäischen Mitgliedsstaaten der Assoziierungsprozess sozusagen das Angebot war, um weitergehenden Aspirationen einen Riegel vorzuschieben. Da geben ich Ihnen Recht, das ist nicht unbedingt ein Geheimnis. Aber jetzt haben wir die Lage: Wir haben das Abkommen. Das wird jetzt erfüllt. Und dann wenn es erfüllt ist, wird man realpolitisch die Frage stellen, wie geht es denn jetzt weiter. Aber diese Frage stellt sich nicht heute, sie stelle sich auch nicht morgen.

Für Georgien, so ungeduldig wie man hier denkt, muss das doch heißen: St. Nimmerlein.

Nein, aber das ist ja das georgische Problem. Wir sprechen aus der Perspektive europäischer Mitgliedsstaaten und der Praxis europäischer Politik. Wenn Georgien etwa in acht oder zehn Jahren das Abkommen erfüllt hat, dann kann ich mir keine politische Situation in Europa, vorstellen, in der ein Mitgliedsstaat sagt, jetzt ist absolut Schluss. Nein, das wird dann neu diskutiert werden, wenn es dieses Europa in dieser Form, die wir uns wünschen und erhoffen, dann so noch gibt. Deshalb sage ich ja: Man wird dann schauen auf das Ergebnis und die europäische Situation. Georgische Realpolitik muss da Schritt für Schritt vorangehen. Ein Problem georgischer Politik ist die Ungeduld.

Die Bevölkerung in Georgien erwartet von der Integration nach Europa Wohlstand über Nacht. Dass vor diesem Erfolg da erst einmal Probleme und Belastungen auf die Menschen zukommen, wurde nicht kommuniziert.

Ja, nicht genug kommuniziert, das glaube ich schon. Deshalb hätte ich mit ein mehr „forthcoming“ Erwartungsmanagement der Eliten hier vorgestellt. Europa, klar ist für Georgier natürlich interessant, attraktiv, weil man in Georgien mit der Integration in die Euro-atlantischen Strukturen Wohlstand, Jobs und Sicherheit verbindet.

Das funktioniert doch aber nur, wenn Georgien Produkte nach Europa liefern kann, die wettbewerbsfähig sind. Jobs werden nicht von Europa mit der Gießkanne über Georgien gestreut. Die müssen hier geschaffen werden.

Europa ist über das reine Marktgeschehen hinaus ja eine Wertegemeinschaft, das hat Europa stark gemacht. Und da hat Georgien aus seiner Jahrhunderte langen Geschichte einiges Europäisches anzubieten. Ich erinnere daran, dass Georgien offiziell sagt, wir befinden uns auf dem Weg „zurück“ nach Europa. Ich habe dies immer als historisch und kulturell gerechtfertigt angesehen. Das ist ja die Dimension jenseits der reinen Marktanalysen, die man natürlich auch machen muss. Georgien war über Jahrhunderte Brücke zwischen Europa und dem Orient, war Teil der Seidenstraße. Gerade das georgisch-deutsche Verhältnis ist voller historischer Facetten, die man aus deutscher Sicht immer im Hinterkopf behalten sollte.

Georgien als Brücke – Wäre es nicht besser, diese seit Jahrhunderten bewährte Funktion des Landes stärker herauszustellen als etwa eine volle Integration in die EU, die immer Reaktionen, berechtigte oder unberechtigte, in Moskau hervorrufen wird? Ich denke dabei an das frühere Modell der GUAM-Staaten (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldawien) als Brücke zwischen den Blöcken.

Also jede Idee hat ihre Zeit. Ich glaube diese Idee ist zur Zeit ein Noflyer. Georgien hat zur Zeit wenig Alternativen als entweder nach Westen oder nach Norden zu schauen. Und wohin die Georgier mehrheitlich schauen, wissen wir. Was anderes kann man heutzutage nicht ernsthaft und mit Aussicht auf Erfolg diskutieren.

Kann die öffentliche Meinung nicht auch kippen? Jüngste Umfragen besagen, dass bereits 31 Prozent der Befragten einen Beitritt zur Eurasischen Zollunion Putins befürworten. Vor etwas mehr als einem Jahr waren es nur elf Prozent.

Ja deshalb ist es aus meiner Sicht auch wichtig, dass westliche Politik nicht immer nur die Karotte hinhält, man muss auch irgendwann mal die Georgier sozusagen reinbeißen lassen. Man kann nicht über Jahre hinweg vertrösten mit dem Hinweis, reformiert mal schön weiter, dann habt ihr verschiedene Tickets in der Tasche. Man muss auch liefern seitens des Westens. Man muss aber, weil wir uns hier im Südkaukasus befinden, ganz klar sehen, dass Entscheidungen unsererseits, die Georgien an westliche Strukturen heranführen, nie und niemals konfrontativ gegen Russland gemacht werden dürfen. Das muss in einem kooperativen Prozess geschehen. Man muss Russland rechtzeitig in politische Entscheidungsprozesse einbinden. Das heißt nicht, dass wir den Russen ein Vetorecht einräumen. Das heißt es nicht. Aber die Ukrainekrise ist ja ein schlagender Beweis, dass in diesem Raum, und die Ukraine ist Teil dieses Raums, nichts gegen Russland passiert. Georgien ermuntere ich, weiter seinen Weg in Richtung Westen zu gehen, uns alle aber ermuntere ich, dies in Gesprächen mit Russland abzufedern. Nur so kann es gehen, dazu braucht man Diplomatie, aber dafür haben wir ja Diplomatie.

Ist diese Abfederung, was Ukraine und Georgien angeht, ausreichend geschehen? Die Ereignisse sprechen nicht unbedingt dafür.

In der Ukraine haben wir eine öffentliche Debatte nicht zuletzt auch in Deutschland. Meine Meinung ist die, dass man im Vorfeld in Sachen Ukraine hätte mehr machen können, als es tatsächlich geschehen ist. Im Fall des Assoziierungsabkommens mit Georgien glaube ich schon, dass nicht zuletzt auch deutsche und französische Diplomatie einiges im Vorfeld getan haben in Gespräche mit Moskau und in Moskau, um diesen Prozess vor einem Jahr gut über die Bühne gehen zu lassen.

Stichwort deutsch-französische Diplomatie. Ist es nicht die Crux der EU Außenpolitik, dass sie wesentlich von den neuen EU-Mitgliedern beeinflusst wird, denen es mehr um die Aufarbeitung ihrer historischen Russland- und Sowjet-Traumata geht, während Zentraleuropa, das alte Europa, seit Helsinki eher in Richtung strategische Partnerschaft mit Russland denkt?

Das kann man so auf den Punkt bringen. Ich habe auch in fünf Jahren meiner Tätigkeit immer diese einheitliche EU-Position im Südkaukasus vermisst. In der Tat haben wir nicht immer und überall mit einer Stimme gesprochen. Das hat Gründe. Die Polen und Balten etwa haben gemeinsam mit Georgien 70 Jahre unter dem Sowjetkommunismus gelitten und wollen als Gleichgesinnte ihre Erfolge in der Integration in westliche Strukturen mit Georgien teilen. Sie haben aber gerade viel mehr angesprochen, den Riss durch die EU aufgrund der letzten Erweiterungsrunde. Das ist ein interessantes, quasi abendfüllendes Thema. Ich habe mir darüber viele Gedanken gemacht. Ich glaube, die neuen Mitglieder haben die Gründungsphilosophie dieser EU etwas in den Hintergrund treten lassen, sie waren ja auch nicht beteiligt. Die EU war zunächst ein großes Friedensprojekt, das größte der Geschichte, und basierte in Gestalt der Kerneuropäer – Deutschland, Frankreich, Italien, Benelux -, darin, zu sagen, dass wir mit der Erfahrung unserer verheerenden Vergangenheit mit zwei Kriegen und Millionen von Toten von jetzt ab eine friedliche, kooperative Zukunft in Europa bauen. Und Teil der Gründungsphilosophie war, niemals und zu keinem Zeitpunkt, die Vergangenheit zu tagespolitischen Zwecken zu instrumentalisieren. Ja, nach der letzten Erweiterungsrunde konnte man in der Tat den Eindruck haben, dass dieser Grundsatz nicht mehr allen politisch Agierenden geläufig war. Natürlich ist es auch politisch-psychologisch nachvollziehbar, dass diese neuen Mitgliedsländer in die Gemeinschaft hineingegangen sind, in der Hoffnung, mit dem Rückhalt dieser großen, konsolidierten Organisation Probleme mit Russland, die sie möglicherweise vorher noch nicht bis zum Ende geklärt und aufgearbeitet hatten, einer leichteren Lösung zuzuführen. Das hat sozusagen auch die interne Balance der europäischen Union durchaus tangiert.

Kann es nicht sein, dass dies jenseits des großen Teiches – nicht ganz uneigennützig – mit großem Interesse verfolgt wird? Zur Erinnerung ein Zitat aus der Bush-Regierung: „Wenn die alten Europäer nicht wollen, machen wir es eben mit den neuen?“

Das weiß ich nicht. Ich gehe davon aus, dass Amerika kein, aber auch kein Interesse daran hat, sozusagen einen Keil in die europäische Solidarität, in die europäische Phalanx zu treiben oder dieses Europa in Gestalt der Europäischen Union und deren einheitliches, solidarisches Auftreten gegenüber anderen Playern zu schwächen. Das sehe ich nicht. Da sehe ich kein strategisches Interesse der USA.

Wenn sie so ihre Tätigkeit mit all den Abstimmungen mit europäischen Kollegen und der EU-Delegation betrachten, waren Sie manchmal nicht ein bisschen neidisch auf Ihren amerikanischen Kollegen, der da abstimmungsfreier agieren konnte und es auch tat, der ja auch immer wieder eingegriffen hat im Land?

Alle Europäer, also keiner von uns, auch nicht individuell oder gemeinsam, haben wir das Gefühl, dass wir mit den USA konkurrieren sollten. Ich finde unser Auftreten, das der Europäer insgesamt, recht gut. Wir haben ja auch unsere Interessen, auch wenn die geostrategisch weniger sichtbar sind als die der Amerikaner oder Russen in diesem Raum. Aber wir fühlen uns in dieser Rolle ganz wohl. Ich kenne keinen Kollegen, der der amerikanischen Führungsrolle, auch der amerikanischen Sichtbarkeit in diesem Lande nacheifern möchte.

Der Interessenskonflikt zwischen den USA und Russland, der vieles lähmt in der Politik, hat der nicht doch noch irgendetwas mit den letzten Zuckungen des Kalten Krieges zu tun?

Ja, ich fühle mich hier immer wieder wie auf dem letzten Schauplatz des Kalten Krieges in Europa mit all den Interessen der Player, die wir kennen. Ich habe mir viele Gedanken gemacht, wie kann man diese Situation der Konfrontation im Südkaukasus überwinden. Und meine Vision, meine Hoffnung ist, dass dieses nur, wie es auch in Zentraleuropa in den 80er Jahren gelungen ist, durch Kooperation gemacht werden kann. Das heißt, alle beteiligten Parteien dazu zu bringen, durch die Identifizierung von Win-Win-Projekten, am ehesten ökonomischen Projekten, Bewegung in die politisch festgefahrene Situation zu bekommen. Ökonomische Projekte haben den Vorteil, dass sie jenseits von Statusfragen realisierbar sind. Und wenn wir hier Projekte identifizieren würden, rein theoretisch gesprochen, an denen sowohl die Russen wie die Georgier, die Türken wie die Abchasen und alle, die hier an Konflikten beteiligt sind, Armeniener und Aserbaidschaner eingeschlossen, wenn wir so etwas hinbekämen, dann sähe ich die Chance, dass sich auch Bewegung in den politisch festgefahrenen Konflikten ergibt. Aber das ist eine Vision, die am Horizont steht. Die sage ich auch nur mit meiner deutschen Erfahrung im Hinterkopf.

Ist eine solche Vision überhaupt denkbar, wenn Georgien mit aller Macht in die NATO drängt, wie es gerade Parlamentspräsident Usupaschwili wieder mit Nachdruck gefordert hat?

Ja, es ist eine Vision. Visionen sind immer denkbar und man muss den Mut haben, „out of the box“ zu denken, innovativ zu denken. Ohne das, glaube ich, drehen wir uns immer weiter im Kreise. Situationen ändern sich schnell, das zeigt die Geschichte. Man soll nie, nie aufhören, auch das zur Zeit noch Unrealistische und Undenkbare zu denken. Warum nicht? Nur so passiert politisch diplomatischer Fortschritt.

Noch ein Georgien-EU-Thema: Visafreier Reiseverkehr. Für die Regierung ein Thema mit hohem Symbolwert, das aber der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung nicht zu besseren Lebensstandards verhilft.

Nein, das sicherlich nicht. Aber ich glaube, Visafreiheit hat nicht nur für die Regierung im Hinblick auf die Wahl 2016 einen hohen Stellenwert. Auch für die Menschen hat Visafreiheit eine Bedeutung, auch wenn jetzt schon jeder Georgier, der ein Visum möchte, dies auch bekommt und reisen kann. Visafreiheit ist psychologisch für die Menschen ein Zeichen: Jawohl wir Europäer, wir Alt-Europäer anerkennen den Weg, den Ihr eingeschlagen habt. Wir erkennen die Wegstrecke, die Ihr zurückgelegt habt. Es ist auch sozusagen ein symbolisches Angebot, geht diesen Weg weiter, nehmt die Implementierung des Assoziierungsabkommens ernst und am Ende dieses teilweise schwierigen Weges steht ein Erfolg, der greifbar ist. Ich glaube, das verstehen die Menschen, auch wenn nicht gleich 80 % von ihnen visafrei nach Europa reisen wollen, schon gar nicht in der heutigen materiellen Situation. Aber politisch-psychologisch sind solche immateriellen Einflüsse gestaltend und nicht zu unterschätzen. Ich wünsche das den Georgiern, sie bemühen sich und sie machen es im Rahmen ihrer Möglichkeiten auch gut. Noch einmal, ich habe darauf hingewiesen, wo Georgien historisch und kulturell herkommt. Das ist eine Last einerseits, wenn man die heutige Situation mit der in Westeuropa vergleicht, aber auch eine Chance, diesen Weg nach Europa unter Wahrung ihrer ureigensten Werte weiter zu gehen. Nur so wird der Weg erfolgreich. Der Weg nach Europa darf für Georgien nicht heißen, wir adaptieren ein politisches System und ahmen dieses nach und dann sind wir europäisch. Georgien muss diesen Weg unter weitgehender Bewahrung seiner Werte gehen.

Ein letztes Stichwort: Parlamentswahlen im nächsten Jahr. Kann sich die politische Landschaft Georgiens weg von führenden Lichtgestalten zu einem funktionierenden Mehrparteien-System entwickeln?

Ich bin kein Prophet, aber ich hoffe, dass die Zeiten der Lichtgestalten überwunden sind. Lichtgestalten sind nicht unbedingt demokratieförderlich. Deshalb begrüße ich die jetzige Konstellation. Klar, die georgische Geschichte, das wissen wir, hatte immer diese großen charismatischen Führer. Ich sehe das Parteiengefüge durchaus fluktuieren. Wir werden sehen, was aus dem Georgischen Traum wird, ob es eine Koalitionsregierung unter anderen Vorzeichen geben wird. Ich schließe vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung nicht aus, dass russlandfreundlichere Kräfte durchaus im Parlament vertreten sein können. Es bleibt also weiter spannend. Mir macht Hoffnung, dass jetzt seit einiger Zeit das System mit den Institutionen funktioniert, zwar noch nicht optimal, aber besser als in der Vergangenheit. Aber das ist ein hoffnungsvoller Ansatz.