Zwei Todesfälle und ein Ministerrücktritt mit politischem Hintergrund

Ein Kommentar von Rainer Kaufmann

Der georgische Innenminister Alexander Tschikaidse ist über einen mehr als mysteriösen Fall von zwei Todesopfern, Vater und Sohn, gestürzt. Er hat die politische Verantwortung für eine Geschichte übernommen, die ohne Zweifel als Skandal bezeichnet werden kann, obwohl ihm persönlich bis heute nicht unbedingt ein Fehlverhalten nachgewiesen werden kann. Das zumindest ehrt den Mann, der als Minister allerdings mehr als nur blass geblieben ist. Der Fall geht aber weit über die aktuellen Ereignisse hinaus, er hat grundsätzliche Bedeutung.

Zunächst ganz kurz die Geschichte: Im Jahr 2006 stellte die Tifliser Polizei zwei junge Männer mitten in der Stadt, aus welchem Grund auch immer, und erschoss sie bei diesem Manöver, angeblich wollten die beiden die Flucht ergreifen. Obwohl Passanten erklärten, die beiden hätten sich nicht gewehrt, wurden sie von der Polizei der Regierung Saakaschwili-Merabischwili erschossen. Der Vater des einen gründete eine Stiftung, die sich um die Aufklärung dieser und ähnlicher Fälle kümmerte und lies bis heute nicht nach in seinem Bemühen, die verantwortlichen Polizisten vor Gericht zu bringen. Die Strafermittlungsbehörden haben den Fall – neun Jahre danach – noch immer nicht abgeschlossen. Erst seit September letzten Jahres, so Georgiens Justizministerin, habe sich die Staatsanwaltschaft dieses Falles verstärkt angenommen.

In den letzten Wochen beschuldigte der Vater den heutigen Innenminister, die Polizisten zu decken, die seinen Sohn erschossen haben. Sie seien weiter im Dienste des Innenministeriums. Diesen Vorwurf wollte der Innenminister nicht auf sich beruhen lassen und trat zurück. Er habe mit den Untersuchungen nichts zu tun. Der Vater legte nach: Er habe neue Beweise für die Schuld der Beamten und forderte jetzt endlich den Abschluss der Untersuchungen und die Bestrafung der Polizisten.

Einen Tag später, als er wie bei jedem Aufenthalt in seinem Heimatdorf das Grab seines Sohnes besuchte, explodierte dort eine vorher anscheinend professionell angebrachte Bombe und tötete den Vater. Es müssen, so die Meinung von allen politischen Kommentaren, Spezialisten gewesen sein, die diese Bombe angebracht haben. Und sie haben wohl im Voraus vom Besuch des Vaters gewusst. Die Aufregung im Lande ist groß, Präsident, Premier, der Parlamentspräsident, die Justizministerin, ja sogar Bidsina Iwanischwili, der ansonsten im Hintergrund agiert, meldeten sich mit großer Besorgnis zu Wort und versprachen rasche Aufklärung. Alle, auch Iwanischwili, der eigentlich kein öffentliches Amt mehr bekleidet, hatten in den letzten Monaten immer wieder Gesprächskontakte mit dem jetzt getöteten Vater und ihm Unterstützung in seinem Anliegen zugesagt. Soweit diese mehr als traurige Geschichte, die keinesfalls ein Ruhmesblatt des georgischen Rechtsstaates vor allem der letzten zehn Jahre darstellt.

Bei all den aktuellen Diskussionen wird allerdings das Grundsätzliche in dem Fall übersehen. Es geht um die Frage, wie der Staat mit dem ihm zustehenden Gewaltmonopol umgeht. Und da wird es dann hochpolitisch. Denn der frühere Präsident Saakaschwili hatte mit seiner erklärten „Null-Toleranz-Politik gegenüber Verbrechen“ der Polizei sozusagen einen Freibrief ausgestellt, bei Widerstand gegen Polizeimaßnahmen  jederzeit von der Schusswaffe Gebrauch machen zu können. Und zwar – nicht wie in Deutschland – nur, um Verdächtige kampfunfähig zu machen. Nein, sein damaliges Dekret war gleichzusetzen mit dem, was man in Deutschland den „finalen Todesschuss“ nennt. Ein Thema, das Verfassungsrechtler bei uns einige Zeit ausgiebig beschäftigt hat. In Georgien ging das per Dekret.

Der in Rede stehende Fall aus dem Jahr 2006 war nicht der einzige, in dem die Polizei von diesem Recht rücksichtslos Gebrauch gemacht hat. Dass solche Fälle dann nicht weiter ermittelt, sondern verschleppt wurden, versteht sich von selbst. Denn jeder des Mordes angeklagte Polizist hätte sich auf dieses Dekret berufen können. Für Staatsanwälte und Richter dieser Zeit keine Aufgabe, der sie sich hätten unterziehen wollen, hätten sie sich doch auch mit den Vorgaben der politischen Führung und deren Rechtmäßigkeit auseinander setzen müssen. Dass die politische Führung ihrerseits kein Interesse an einer juristischen Aufarbeitung hatte, versteht sich von selbst.

Tinatin Chidascheli, heute Parlamentsabgeordnete der Republikaner und noch bei der „Rosenrevolution“ auf Seiten Saakaschwilis auf den Straßen, hatte damals als einzige den wahren Inhalt dieses Dekretes erkannt und sich in einem bemerkenswerten öffentlichen Brief von Saakaschwili, den sie bis dahin unterstützt hatte, losgesagt. Sie warf dem Präsidenten damals vor, mit diesem Erlass gewissermaßen durch die Hintertür die unter Schewardnadse bereits abgeschaffte Todesstrafe wieder eingeführt zu haben. Und das, so ihre Argumentation, unter Umgehung der Gerichtsbarkeit, die, wenn überhaupt, alleine berechtigt gewesen wäre, Todesurteile auszusprechen und zu vollziehen, auf keinen Fall die Polizei. Tinatin Chidascheli war damals Vorsitzende der angesehenen Menschenrechtsorganisation Young Lawyers Association, der auch ihr Mann angehörte, der heute Präsident des georgischen Parlamentes ist, Davit Usupaschwili.

Der doppelte Todesfall von Vater und Sohn ist damit im Grunde genommen auch ein Fall Saakaschwili und dessen Rechtsverständnisses. Auch deshalb ist es an der Zeit, beide Todesfälle lückenlos aufzuklären und alle Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Tea Tsulukiani, die Justizministerin zu diesem Fall: „Wir können nicht von uns behaupten, eine starke Regierung zu sein, wenn dieser Mann einer Bombenattacke zum Opfer gefallen ist und wir nichts tun können.“ Der Rechtsstaat Georgien steht auf dem Prüfstand.