Das Jahr Europas in Georgien?

Die EU-Assoziierung wirft ihre Schatten voraus

Am 15. Januar hat der Deutsche Bundestag das Assoziierungsabkommen der EU mit Georgien ratifiziert. Zuvor hatten auch das EU-Parlament und einige andere Länder getan. Wenn jetzt noch die Parlamente der restlichen EU-Mitgliedsländer zugestimmt haben werden, tritt der Vertrag in Kraft, das Georgien ein Freihandelsabkommen und eine Art „EU-Mitgliedschaft light“ im Rahmen der Östlichen Partnerschaft der EU bringen soll.

Über 100 Seiten stark ist die Bundestagsdrucksache, in der alle 432 Paragraphen des Vertragswerkes auf Deutsch veröffentlicht sind. Dazu kommt noch das Kleingedruckte, unzählige Anlagen und Protokolle von mehr als tausend Seiten, in denen in allen Details festgelegt wird, welche Reformen Georgien unternehmen muss, um schlussendlich in den Genuss einer Assoziierung zu kommen. Eine Verpflichtung für das Land, sich in nahezu allen Lebensbereichen in festgeschriebenen, sehr engen Zeitabläufen den Gesetzesstandards der Europäischen Union anzunähern oder diese komplett zu übernehmen. Mehrere hundert Gesetze müssen geändert werden oder gar neu erlassen. Und alles wird überwacht von einem europäisch-georgischen Assoziierungsrat samt Assoziierungsausschüssen auf Regierungs- und Parlamentsebene, die regelmäßig die Reformfortschritte bewerten. Will heißen: Die georgische Gesetzgebung wird de facto ab sofort von Brüssel mitbestimmt und kontrolliert. Eine Situation, die Georgien freiwillig herbeigeführt hat.

Die Umsetzung des Assoziierungsabkommens bedeutet für das Land zunächst einmal eine große Herausforderung. Denn in wenigen Jahren soll in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft nichts mehr so sein, wie es heute ist. Die Früchte dieser Blut-Schweiß-und-Tränen-Periode werden aber erst in einigen Jahren geerntet werden können. EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn hat es kürzlich bei einem Besuch in Georgien, diplomatisch verklausuliert, so ausgedrückt: „Heute daran arbeiten, um morgen Europäer zu sein.“ Allerdings mahnte er auch die georgische Regierung, die Bevölkerung offen darüber zu informieren, welche Belastungen und Herausforderungen heute auf sie zukommen, um, wann immer das sein mag, die Vorteile der EU genießen zu können.

Ein wichtiger Hinweis, denn trotz aller Europa-Euphorie in den georgischen Meinungsumfragen, die eine überwältigende Zustimmung zum EU-Kurs des Landes signalisieren, dürfte den wenigsten Menschen klar sein, was diese Politik in naher Zukunft an Belastungen für jeden einzelnen mit sich bringen wird. Hahn machte auch deutlich, dass das Assoziierungsabkommen kein Beitrittsabkommen zur EU sei und in dieser Phase auch nicht als Teil eines Beitrittsprozesses bewertet werden könne. Es lasse lediglich in der Zukunft „die Tür für eine fortschreitende Entwicklung in den Beziehungen zwischen Georgien und der EU offen“. Deutliche Worte, wenn sie überhaupt vernommen werden, denn in Georgien wird die Assoziierung weitgehend als Vorstufe einer endgültigen Mitgliedschaft in der EU interpretiert.

Die wichtigste Frage allerdings wird weder in Georgien noch in Brüssel derzeit wirklich thematisiert, die Frage nämlich, ob Georgien, seine Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, reif sind für diesen zunächst einmal schmerzhaften Prozess. Ob die Reform-Quantensprünge, die sich das Land abverlangt, überhaupt bewältig werden können. Zweifel sind erlaubt, vor allem deshalb, weil mit der EU-Assoziierung landläufig die Erwartung auf schnellen Wohlstand verknüpft wird. Dies nicht ohne Grund, denn europäische Politiker wurden nicht müde, die Chancen auszumalen, die sich Georgien als Teil des großen Binnenmarktes Europas in Zukunft bieten. Die Exporte in die EU sollen nach einer Brüsseler Prognose mit 12 Prozent pro Jahr signifikant höher steigen als die Importe aus der EU mit 7,5 Prozent. Das Bruttosozialprodukt des Landes soll allein durch die Assoziierung pro Jahr um 4,3 Prozent steigen. Zahlen, die auch von der georgischen Regierung immer wieder vorgetragen werden.

Um das, was jetzt auf Georgien zukommt, einschätzen zu können, muss man sich erst einmal mit der real existierenden wirtschaftlichen Situation des Landes beschäftigen. In der Beschäftigungsstatistik werden mehr als zwei Drittel der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter als selbständige Gewerbetreibende geführt. Also – neben der Landwirtschaft – zählt jeder kleine Straßen- oder Kellerhändler, der nicht wirklich behaupten kann, den Lebensunterhalt seiner Familie zu verdienen, als Selbständiger. Die Hälfte der Bevölkerung wird als in der Landwirtschaft beschäftigt geführt, von denen wiederum die Hälfte – mithin ein Viertel der „Gesamtbeschäftigten“ des Landes – nicht einmal 0,2 Hektar Erwerbsfläche bewirtschaftet. Kurz: Die georgische Wirtschaft liegt, realistisch betrachtet, dermaßen am Boden, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung eigentlich als einkommenslos bezeichnet werden müsste. Eine Schreckensbilanz, der sich keine postsowjetische georgische Regierung von Schewardnadse über Saakaschwili bis hin zum Georgischen Traum bisher auch nur annähernd angenommen hat, wie Nodar Sadschweladse, ein georgischer Publizist, gerade in einer schonungslos offenen Analyse dargestellt hat. Die Schaffung von Arbeitsplätzen sei die höchste Priorität im Lande, sagt er. Und er sagt, dass auch die gegenwärtige Regierung auf diesem Gebiet völlig versagt und kaum eines ihrer Wahlversprechen eingelöst habe.

In dieser mehr als nur schwierigen Wirtschaftslage stellt sich Georgien jetzt der Aufgabe, das Land nach EU-Standards zu reformieren. Ein Gewaltakt, der nicht nur Chancen birgt, sondern auch Risiken. Denn jeder von der EU geforderte Reformschritt wird auch diejenigen mit finanziellen Belastungen treffen, die ohnehin am Existenzminimum leben, mithin nahezu die Hälfte der Bevölkerung. Belastungen im Umweltbereich (siehe auch Seite 4 dieser Ausgabe) zum Beispiel, die seit Jahresbeginn gelten. Oder strengere hygienische Auflagen bei der Lebensmittelproduktion. Machen die geforderten Reformen einen Unterschied, ob diese Lebensmittel in die EU exportiert werden sollen oder für den heimischen Markt bestimmt sind? Müssen etwa Kleinbauern, die mit dem Straßenverkauf eines selbst geschlachteten Schweines wenigstens etwas Geld verdienen können, damit rechnen, dass künftig nur noch in EU-zertifizierten Schlachthöfen geschlachtet werden darf? Oder all die „Vollerwerbslandwirte“, die an der Straße ihre saisonalen Produkte anbieten. Braucht Georgien wirklich „EU-Hygiene“ für die Versorgung seiner eigenen Bevölkerung mit Lebensmitteln? Kein Geringerer als der französische Präsident hat den Georgiern ja versprochen, mit der EU-Assoziierung würden sie künftig hygienisch bessere Lebensmittel bekommen als bisher. Ob sich die Mehrheit der Georgier genau dieses unter einer Annäherung an die EU vorstellt? Ist europäische Lebensmittelhygiene wirklich gesünder als das, was hierzulande seit Jahrhunderten gegessen wird?

Eine andere Frage: Wo sind die versprochenen Investoren, die im Agrarbereich für eine dringende Modernisierung sorgen und dabei Arbeitsplätze schaffen in Produktion und vor allem in der Lebensmittelverarbeitung? Gibt es für die dann vermutlich teureren Produkte einen heimischen Markt? Oder wo sind die künftigen Exportmärkte für Georgien? Etwa in der EU? Oder wird Georgien, das heute schon 60 Prozent seiner Lebensmittel importiert, künftig mit noch mehr Importen aus der EU überschwemmt?

Weitere Beispiele: PKW-TÜV. Wie viele Fahrzeuge, die heute den Menschen wenigstens etwas Mobilität bieten und damit die Chance, ihre Produkte zu den lokalen Märkten zu bringen, müssen aus dem Verkehr gezogen werden? Was, wenn etwa europäische Standards im Taxi-Gewerbe eingeführt werden, Insassen-Versicherung und vieles mehr? Wie viele selbständige Taxi-Unternehmer, nicht wenige von ihnen mit Universitätsabschluss und ohne Job, verlieren dann ihre Existenz? Was ist mit den Nachbarmärkten Aserbaidschan und Armenien, wenn Georgien zolltechnisch EU-Außengrenze ist? Die Liste solcher Fragen aus dem georgischen Wirtschaftsalltag ließe sich problemlos verlängern bis hin zu der wirklich nicht entscheidenden Frage, ob die EU auch die Werbezeiten in den TV-Programmen Georgiens zu regeln hat, was bereits angekündigt wurde. In der georgischen Politik werden solche Fragen derzeit kaum diskutiert, zumindest nicht öffentlich.

Michael Roth, Staatsminister im Auswärtigen Amt in Berlin, hat diese Probleme bei seiner Bundestagsrede anlässlich der Ratifizierung wenigstens angedeutet: „Die Reformen bedeuten für die Assoziierungsländer einen Kraftakt, der diese grundlegend verändern dürfte. Ein solch radikaler Wandel vollzieht sich nicht ohne Spannungen. Er kennt nicht nur Gewinner, sondern er bringt – zumindest kurzfristig – immer auch Verlierer hervor.“ Wer sagt dies der georgischen Bevölkerung?

Sollten in Georgien mehr als 50 Prozent der Menschen zu den Verlierern dieses Kraftaktes gehören, wenn auch nur vorübergehend, könnten künftige Meinungsumfragen zur EU-Orientierung des Landes ganz anders aussehen. Die Brüsseler Bürokratie wird über manchen Schatten springen und sehr viel Sensibilität aufbringen müssen, dieses zu verhindern. Nicht nur die georgische Regierung.

Rainer Kaufmann