Vilnius – Tiflis – Kiew – Brüssel – München. Und Moskau?

Ein Kommentar von Rainer Kaufmann

Sechs Städte, die in diesen Tagen ein Thema verbindet: Die nahezu völlig missratene Nachbarschafts-Politik der EU im Osten Europas. Die Machtprobe in Kiew – Ausgang derzeit noch völlig offen – hat für einen Tag die Münchner Sicherheitskonferenz bestimmt und weltweit bedeutendere Themen wie Syrien, Iran oder Zentralafrika nahezu in den Hintergrund verdrängt. Dabei konnte sich die georgische Delegation – im Schatten der Kiewer Ereignisse freilich – bestens positionieren. Ein friedlicher Machtwechsel und Reform-Fortschritte in nahezu allen Bereichen der Politik. Die Folge: Das Assoziierungsabkommen mit der EU soll noch in diesem Spätsommer unterschrieben werden, ein beschleunigter Zeitplan, vermutlich um Vilnius wenigstens einen kleinen Erfolg zu retten. Tiflis darf sich so als europäischer Musterknabe fühlen. Von der Drohung, die „selektive Justiz“ gegen einzelne Mitglieder der Saakaschwili-Regierung könne die EU-Assoziierung gefährden, ist EU-weit nichts mehr zu hören. So schnell können Kampagnen in sich zusammen brechen. Und mit Russland geht man mittlerweile auch diplomatisch geschickter um, was dem georgischen Premier, allen offen angesprochenen grundsätzlichen Streitfragen zwischen Moskau und Tiflis zum Trotz, dennoch ein dickes Moskauer Lob in München einbrachte. Das Eis hat wenigstens erste Risse bekommen.

Dennoch schaut Tiflis mit einiger Sorge nach Kiew. Was, wenn Russland nach dem olympischen Frieden von Sotschi auch anfängt, in Georgien Stimmung gegen die EU-Annäherung zu machen? Wirtschaftlichen Druck kann Moskau kaum ausüben, Georgien hat den Wein-Boykott überlebt und ist ohnehin auf dem Wege der wirtschaftlichen Besserung. Wohlstand für vier Millionen Menschen ist schneller zu organisieren als für 40 Millionen. Es gibt für Moskau aber andere Möglichkeiten, zu sticheln, vor allem mit den Faustpfändern Abchasien und Südossetien. Bei noch so geschickter Diplomatie wird Georgien diese Frage nie alleine mit Russland lösen können, ebenso wenig wie die Ukraine ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom östlichen Nachbarn alleine auflösen kann. In beiden Fällen ist jetzt die EU gefordert, auch in Moskau den Weg für die Assoziierung ihrer Aspiranten freizukämpfen. Flankierende Maßnahmen, die man bisher sträflich vernachlässigt hat. Finanzhilfen, viel zu spät ins Auge gefasst, alleine reichen nicht. Erst nach dem Fiasko von Vilnius hat man in Brüssel erkannt, dass die Anziehungskraft der demokratischen Wertegemeinschaft EU und ihr immenses Marktpotential alleine nicht stark genug sind, frühere Sowjetrepubliken an sich zu binden. Schon gar nicht, wenn diese Bindung nur halbherzig über den Weg der Assoziierung versucht wird. In Brüssel mehren sich derzeit die Stimmen, die sagen, dass am Ende der Entwicklung auch die Zusage einer Vollmitgliedschaft in der EU stehen muss. Vom „Licht am Ende des Tunnels“ ist die Rede.

Was in Brüssel bis heute noch kaum beachtet wird, ist aber die Tatsache, dass Europa nicht an den Außengrenzen der EU aufhört. Europa geht vom Atlantik bis zum Ural. Von der Ostgrenze Polens ist es zum Ural nahezu genau so weit wie zum Atlantik bei Portugal. Eine östliche Partnerschaft ohne Einbindung der Interessen des stärksten europäischen Staates im Osten wird kaum gelingen, gegen ihn schon gar nicht. Man muss in Brüssel nicht alle strategischen Überlegungen Moskaus teilen, man kann das sicher nicht. Aber man sollte sich wenigstens bemühen, sie zu verstehen, und versuchen, im Dialog mit Moskau den wesentlichsten Irritationen auf den Grund zu gehen. Der neue Koordinator der Bundesregierung für Russland (erweitert um Zentralasien und die Länder der östlichen Partnerschaft), Gernot Erler, hat dies in seinen ersten Interviews bereits deutlich gemacht.

Europäische Außenpolitiker haben auf dem unübersichtlichen Maidan von Kiew eigentlich nichts zu suchen. Dafür umso mehr auf dem diplomatischen Parkett in Moskau, denn dort wird auch europäische Musik gespielt, ob uns das passt oder nicht. Solange Gipfeltreffen der EU mit Russland auf die Dauer einer Kaffepause eingedampft werden, ist Stillstand angesagt, eine neue Variante des Kalten Krieges. Die Schuld dafür alleine in Russland zu suchen, wäre viel zu kurz gesprungen.