Wanos Filmfestspiele und die Folgen

Die Justiz Georgiens steht vor einer fast unlösbaren Aufgabe

Nein, sie müsse sich die Videos, die von ihr heimlich gedreht wurden, nicht ansehen. Sie wisse ja selbst gut genug, was sie in den letzten Jahren gemacht und mit wem sie sich getroffen habe. Erstaunlich locker geht Tinatin Khidascheli, in langjähriger Opposition erprobte Menschenrechtsaktivistin und jetzt Mitglied im georgischen Parlament, mit der Tatsache um, dass sie auf einer Liste von etwa 18.500 Einzelvideos, mit denen die Regierung Saakaschwili Oppositionspolitiker und Prominente heimlich beobachten ließ, gleich mehrfach auftaucht: Tinatin trifft sich mit Studenten, Tinatin im Cafe, Tinatin hier und Tinatin dort. Tinatin kann über diese Geschäftigkeit der georgischen Dienste nur noch milde lächeln.

Die Beobachtungsvideos sind nur ein Teil des Skandals, der Georgien seit einigen Wochen auf Trab hält. Sie wurden in einem heimlichen Waffenlager in Mingrelien in Westgeorgien gefunden, in dem – auf Anweisung des Präsidenten, wie er später einräumte – Waffen und Munition gelagert wurden. Es soll mehrere solcher Lager geben. Er habe für den Fall einer neuen Aggression die „Infrastruktur des Landes nicht mehr so unvorbereitet wissen wollen wie im Jahr 2008.“ Für wen diese Waffenlager, die wohl nicht dem für solche Situationen zuständigen Verteidigungsministerium unterstanden, gedacht waren, erklärte er nicht. Von den Skandal-Videos allerdings will Saakaschwili nichts gewusst haben.

Weitaus brisanter als die persönlichen Überwachungsfilmchen mit einer Gesamtlänge von einigen Tausend Stunden sind zwei Videosammlungen, in denen üble Misshandlungen von Gefangenen gezeigt werden. Sie sollen an Grausamkeit und Perversität selbst die Clips übertreffen, die im letzten Jahr kurz vor den Wahlen im Fernsehen gezeigt wurden und für Entsetzen unter der Bevölkerung gesorgt hatten. Ursprünglich sollten die neuen Videos sofort vernichtet werden, um Missbrauch zu verhindern. Auf dringliches Anraten des amerikanischen Botschafters aber werden sie als Beweismaterial für künftige Strafprozesse gesichert. Dem diplomatischen Korps, Menschenrechtsorganisationen und Medienvertretern wurden einige dieser Videos vorgeführt, wobei vor allem Menschrechtsorganisationen der Regierung vorwarfen, die Grundprinzipien des Opferschutzes verletzt zu haben.

Selbst Vertreter der Partei Saakaschwilis, United National Movement (UNM), geben mittlerweile zu, dass es sich bei diesen Videos nicht um Auswüchse einzelner Täter gehandelt habe, sondern um ein staatliches System. Zur gleichen Bewertung kommt auch Tinatin Khidasheli: „Ohne Anordnung höchster Regierungsstellen ist das überhaupt nicht vorstellbar.“ Sie fügt allerdings hinzu, dass es wohl sehr schwer werden würde, dem damals zuständigen Minister, Wano Merabischwili, oder gar dem Präsidenten nachzuweisen, dass sie dieses Überwachungs- und Terrorsystem in Auftrag gegeben hätten. Toleriert und genutzt hätten sie es aber allemal. Sie vermutet auch, dass in naher Zukunft noch mehr Video-Material entdeckt wird.

Mit den Überwachungsvideos sollten nach ihrer Ansicht belastendes Material vor allem gegen Oppositionspolitiker, nicht regierungsfreundliche Unternehmer, Priester oder Prominente gesammelt werden, wobei nicht nur die Zielpersonen selbst, sondern auch ihr gesamtes familiäres Umfeld ins Visier der heimlichen Kameraleute gerieten. Ein drogenabhängiger Sohn etwa, ein Ehemann beim Waffenkauf oder Einblicke ins nicht ganz lupenreine Privatleben sind immer wieder dazu benutzt worden, unbequeme Leute entweder öffentlich zu diskreditieren oder hinter den Kulissen dazu zu bringen, etwa ihr Unternehmen „freiwillig“ der Regierung zu überlassen. Wie viele Hotelzimmer oder Gaststätten mit Mikrophonen und Minikameras ausgerüstet waren, lässt sich kaum erahnen. „Wanos Filmfestspiele“ nannte man in Tiflis die in schöner Regelmäßigkeit in regierungsnahen Sendern ausgestrahlten Filmschnipsel. Auch Filme über Ausländer –  Diplomaten, Wirtschaftsvertreter und andere – sollen sich in den Geheim-Archiven befinden. Eine Quelle spricht gar davon, dass es auch Listen gäbe mit Politikern vom „Georgischen Traum“, der damaligen Opposition, die nach einem Wahlsieg der UNM verhaftet werden sollten.

Das meiste von dem sei bekannt gewesen, erklären westliche Diplomaten heute. Aber dass Überwachung von Privatpersonen und Misshandlungen in den Gefängnissen diese Ausmaße angenommen haben, hat selbst diejenigen Beobachter überrascht, die dem Regierungssystem Saakaschwili in den letzten Jahren immer kritischer gegenüber standen.

Das Problem liegt jetzt bei der Justiz, die das ganze Material sichten und, sollten sich verwertbare Verdachtsmomente ergeben, ermitteln und anklagen muss. Eine Herkulesaufgabe für das Justizsystem, das sich personell und strukturell noch in der Umbauphase befindet und alles andere als gefestigt bezeichnet werden kann. Dabei sollen bei den Staatsanwaltschaften seit Oktober letzten Jahres 28.000 Anzeigen aus der Bevölkerung wegen Rechtsverstößen der früheren Regierung eingegangen sein. Die Menschrechtskommission des Parlaments darf sich mit über 6.000 Petitionen herumschlagen und beim Ombudsmann sind ebenfalls mehr als 1.000 Beschwerden eingegangen. Eine traurige Bilanz der Rosenregierung, die einmal angetreten war, das korrupte System der Schewardnadse-Ära zu überwinden und Demokratie und Freiheit auf ihre Fahnen geschrieben hatte. Georgien war in den letzten Jahren ein Überwachungsstaat, räumen westliche Diplomaten ein. Und kaum jemand in Europa wollte zur Kenntnis nehmen, dass beim NATO- und EU-Vorzeige-Aspiranten Georgien einiges aus dem Ruder gelaufen war.

Bis heute gibt es in europäischen Hauptstätten und in Brüssel noch immer einflussreiche Politiker, die der neuen Regierung politische Rachejustiz unterstellen und sogar mit negativen Konsequenzen für Georgien beim nächsten EU-Gipfel in Vilnius im Oktober dieses Jahres drohen. Allerdings ist der jüngste Versuch der Europäischen Volkspartei, in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Dringlichkeitsdebatte mit dem Titel „Die Verschlechterung der Lage in Georgien“ durchzusetzen, gescheitert. Nicht einmal alle Mitglieder der EVP im Parlamentsbüro unterstützten diesen Antrag. In einer Erklärung der Parlamentarischen Versammlung der OSZE werden dagegen trotz allen Lobes für die Fortschritte in Georgien auch ernsthafte Bedenken wegen selektiver Justiz und Verfolgung der Opposition geäußert.

Die UNM versucht, ihren in Untersuchungshaft einsitzenden Generalsekretär Wano Merabischwili, vormals Innenminister und verantwortlich für diese Vorgänge, als politischen Gefangenen darzustellen. Beobachter mehrerer internationaler Treffen der letzten Tage in Tiflis berichten, dass sowohl der Präsident als auch einige seiner Mitstreiter keine Gelegenheit ausließen, den Fall Merabischwili als politische Verfolgung darzustellen und die georgische Regierung vor der internationalen Öffentlichkeit anzuklagen. (Siehe auch Seite 2: „Georgien und die NATO“). Allerdings, so wird berichtet, hätten sich die meisten NATO-Offiziellen diese Beiträge eher angewidert, zumindest aber gelangweilt angehört.

An einer Außenwand des UNM-Hauptquartiers fordert ein überdimensionales Plakat „Freiheit für Wano Merabischwili“. Dem Politiker werden mehrere schwerwiegende Straftaten vorgeworfen, unter anderem auch die Beteiligung am Mordfall Girgvliani, der damals ganz Georgien in Aufruhr versetzte und schließlich beim Europäischen Gerichtshof für Menschrechte in Straßburg landete. Dort musste sich die Regierung Saakaschwili den Vorwurf schwerer Rechtsverletzungen gefallen lassen, ohne darauf zu reagien. Der Fall wird jetzt erneut aufgerollt mit Wano Merabischwili als Beschuldigtem.

Ein interessantes Schlaglicht auf Person Merabischwili gab Elene Tevdoradse, die frühere Menschenrechtsbeauftragte der Regierung Saakaschwili, kürzlich in einem Interview mit der Zeitung „Georgien und die Welt“. Nachdem sie im Jahr 2005 von Augenzeugen über die offensichtliche Exekution drei junger Männer durch die Polizei erfahren hatte, ging sie sofort zu Wano Merabischwili, um ihm zu erklären, dass sie diese Geschichte veröffentlichen werde. Seine Reaktion schildert Elene Tevdoradse in dem Interview: „Ich werde keinen Frieden finden, bevor nicht 200 Männer wie diese und Sie dazu (gemeint Elene Tevdoradse), im Grab liegen.“

                                                                                                                   Rainer Kaufmann