Schokoladenrolle und Storchengang hinter dem Eisernen Vorhang
von Kathrin Schneider
Zwischen den 1940er Jahren bis 2004 gab es in Georgien eine Anzahl kleiner, deutscher Kindergärten, die in der Sowjetära im Verborgenen arbeiteten. Mehrere Generationen georgischer Kinder aus bürgerlichen Familien lernten hier nicht nur die deutsche Sprache, sondern wurden von ihren Erzieherinnen, den sogenannten Deutsche Tanten, im Geist der Montessori-Pädagogik unterrichtet. Betreuungsorte waren keine großen Bildungsanstalten mit Speisesaal und Turnhalle, sondern Privatwohnungen der Tanten oder der Kinder selbst.
Wie entstanden diese Inseln deutscher, anthroposophisch geprägter Erziehungsmethoden in Mitten des Kollektivwillens der Sowjetpädagogik?
Am Anfang dieses Phänomens steht sicherlich die Präsenz deutscher Auswanderer, die sich im 19. Jahrhundert in ländlichen Gegenden wie etwa Bolnisi, aber auch am Rande von Tiflis ansiedelten. Diese Auswanderer trugen wesentlich dazu bei, Deutsch in Georgien als bedeutsamste Fremdsprache nach Russisch zu verankern. Viele wohlhabendere Georgier wünschten sich für die Betreuung ihrer Kinder eine deutsche Gouvernante. In der Folge gingen nicht wenige dieser Kinder nach Deutschland, um hier zu studieren. Zwischen 1918-1921, also in den Jahren der Unabhängigkeit, zahlte die georgische Regierung zusätzlich über 100 jungen Menschen ein Stipendium an einer deutschen Universität. Das dort erworbene Wissen bildete u.a. das Fundament für die Gründung der Tifliser Universität.
In der Zeit des 2. Weltkriegs jedoch erlitt die enge Verbindung zwischen Deutschland und Georgien einen jähen Bruch: 1941 deportierte das Sowjetregime die Georgiendeutschen nach Kasachstan und ins Wolga-Gebiet. Lediglich deutsche Frauen, die mit einem Georgier verheiratet waren, durften im Land verbleiben. Diese Frauen erkannten, dass die Nachfrage an deutschen Bildungsstätten trotz der politisch problematischen Lage bei vielen Tiflisern der georgischen Mittelschicht immer noch lebendig war und schufen sich mit dem Aufbau deutscher Kindergärten eine Lebensgrundlage. „Die Kindergärten waren selbstverständlich nicht legal zugelassen.“, erzählt Nino Lejava. Die heutige Leiterin des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in Tiflis besuchte zwischen 1979 und 1981 gemeinsam mit neun anderen Kindern Tante Landas Kindergarten. Jedes Kind hatte einen eigenen kleinen Stuhl, seinen eigenen Becher und ein Paar Hausschuhe. Alle paar Monate zog die kleine Gruppe in eine andere Wohnung aus dem Kreis der Kinder um.
Tante Landa, mit bürgerlichen Namen Jolanta Didebulidze und ihre Schwester Nina, die ebenfalls eine Kindergartengruppe leitete, sprachen mit den Kindern ausschließlich auf Deutsch und legten viel Wert auf spielerische Erziehung. Auch deutsche Traditionen wie das Weihnachtsfest lernten die Kinder hier kennen. „An die Schokoladenrolle erinnern sich wirklich alle!“, schwärmt Lejava und beschreibt detailliert jene Köstlichkeit aus Schokolade und Nüssen, die Tante Landa jedes Jahr zu Weihnachten in ihrem deutschen Kindergarten auftischte. Es wurde gebastelt und „Oh Tannenbaum“ gesungen. Kleine Verletzungen behandelte Tante Landa mit Calendula-Tinktur und an Kindergeburtstagen spielte man Klassiker wie Topf schlagen, Blinde Kuh oder „Die Reise nach Jerusalem“, wobei hier allerdings Tanta Landas Klavier den Kassettenrecorder ersetzte.
Tina Kezeli, heute Geschäftsführerin der Georgian Wine Association, besuchte Tante Ninas Kindergarten. Wie Lejava erinnert sie sich gerne an diese Zeit. „Tante Nina war sehr streng, aber sie schaffte es, zu jedem Kind eine besondere Beziehung aufzubauen. Jeder dachte, dass das seine Tante Nina sei.“, beschreibt sie ihre ehemalige Erzieherin. Die beiden Frauen erzählen von Theaterstücken oder wie toll sie sich fühlten, wenn sie von den Tanten gelobt wurden. Während des Gesprächs kommen immer mehr Erinnerungen hoch. Und man merkt, wie besonders und wertvoll die Erfahrungen im deutschen Kindergarten waren. „Der Kindergarten ist wirklich eines der besten Gefühle meiner Kindheit“, so Kezeli.
Eine verständliche Aussage, blickt man auf den Alltag der staatlichen Kindergärten dieser Zeit. Mit ihrer Ausrichtung auf die Masse, monotonen Aufgaben, wie etwa dem Rezitieren von Gedichten und teilweise harten Bestrafungsmaßnahmen, standen viele Einrichtungen in scharfem Kontrast zur Geborgenheit und individuellen Förderung der deutschen Tanten. Nino Lejava, die während ihrer Zeit bei Tante Landa einige Wochen in einem solchen sowjetischen Kindergarten verbrachte, erlebte in dieser Zeit, aber auch später beim Schulanfang, ihren „Zusammenstoß mit dem Kollektiv“. Gelernt hätte man dort deutlich weniger, viele Beschäftigungen erschienen langweilig. Auch die Gruppendynamik sei bei 40 Kindern eine ganz andere. Ein Gefühl der Ausgeliefertheit konnte als Nebeneffekt dieser großen Gruppen hervor treten. Die Tanten hingegen hätten sehr auf den sozialen Zusammenhalt ihrer Schützlinge geachtet, so dass niemand ausgegrenzt wurde. Tina Kezeli pflichtet ihr bei: „Ja, wir haben dort sehr viel mehr gelernt, als nur die Sprache.“ Sie erzählt, wie Tante Nina es verstand, den Kindern Verantwortungsgefühl und Verlässlichkeit beizubringen.
Beide Frauen hielten teilweise bis zum Tod ihrer Tanten den Kontakt mit ihnen, besuchten später als Gäste die ehemaligen Kindergartengruppen und haben noch heute Kontakt zu vielen anderen Schülern und Schülerinnen von Tante Landa und Tante Nina. Dass die Gruppe derer, die einen solchen Kindergarten besucht haben, jedoch viel größer ist und die Tradition dieser Einrichtungen viel weiter zurückreicht als in die Zeit ihrer Kindheit, stellte Lejava erst in jüngster Zeit bewusst fest.
Im Jahr 2004 waren Nino Lejava und Ana Kordsaia-Samadaschwili zu einer Tagung aus Tiflis nach Moskau gereist und spazierten während einer Pause durch die Stadt. In einem Parfümladen wollte Kordsaia-Samadaschwili unbedingt eine Flasche „Krasnaja Moskwa“, ein Luxusparfüm aus der Sowjetära, finden, um daran zu schnuppern. Dieser Duft erinnere sie an ihre deutsche Kindergärtnerin. Lejava wurde neugierig und hakte nach. Schließlich stellte sich heraus, dass es sich bei der deutschen Kindergärtnerin um Tante Nina handelte. Diese Begegnung regte Lejava dazu an, sich selbst auf die Suche nach der deutschen Minderheit im Kaukasus bzw. ihrer Repräsentanz durch die deutschen Erzieherinnen, zu machen. „Ich wollte wissen, welche Spuren die Tanten in mehreren Generationen hinterlassen haben.“ Erste Nachforschungen ergaben, dass die deutschen Tanten mit ihren Kindergärten tatsächlich ein rein georgisches Phänomen in den deutschen Siedlungsgebieten der Sowjetunion waren. Weder im Aserbaidschan noch in Armenien fanden sich Angaben über eine solche Art frühkindlicher Bildungsorte.
Anhaltspunkte über die zugrunde liegende Didaktik lieferte die Erfahrungen, die Lejavas eigene Tochter in dem in Tiflis von Hanna Ditschler vor einigen Jahren gegründeten deutschen Kindergarten, der „Villa Pepi“ sammelte. Die hier praktizierten Spiele und Methoden basierten teilweise auf der Montessori-Methodik und riefen bei Lejava Erinnerungen an ihre Zeit bei Tante Landa hervor. Stück für Stück setzten sich die Puzzlestücke aus der Kindheit zusammen. Während eines Familienurlaubs im Schwarzwald erzeugte eine Kneipp-Tour einen weiteren Flashback: „Diesen Storchengang, dieses Wassertreten, das haben wir bei Tanta Landa auch immer gemacht.“ , lacht Lejava.
Kurze Zeit später erfuhr sie in einer Unterhaltung mit Tanta Landas Sohn, Alexander Didebulidze, dass sowohl Tante Nina, als auch Tante Landa ihre Leitlinien aus einer alten Kladde seiner Großmutter, Tante Lili, die ihrerseits bereits in den 1940er Jahren Kindergartengruppen geleitet hatte, entnahmen. Tante Landas Tochter Elisso Didebulidze führte die Ideen ihrer Mutter und Großmutter fort. Bis vor etwa acht Jahren unterhielt auch sie eine kleine deutsche Kindergartengruppe, bis heute die letzte dieser Art.
2012 schließlich beschloss Lejava eine Facebook-Gruppe zu gründen, um über dieses Portal, gemeinsam mit anderen ehemaligen Schülerinnen und Schülern der Tanten, Fotos und Erinnerungen zu sammeln und zu teilen. „Fast jeder von uns hat Fotos zu Hause“, erzählt Tina Kezeli. Auch ihr ist es wichtig, die Erinnerung an die Tanten wach zu halten. Beide Frauen sehen die deutsche Tanten als einen wichtigen Teil des Kulturtransfers zwischen Deutschland und Georgien. „Die Tanten waren prägend für bestimmte Generationen. Sie haben den Grundstein für das Interesse an deutscher Kultur gelegt“, so Lejava.
Im Sommer diesen Jahres planen Nino Lejava und Tina Kezeli eine Veranstaltung, bei der Filme, die Kezelis Vater seinerzeit im Kindergarten drehte, gezeigt werden und die ehemaligen Kindergartenschüler zum Erinnerungsaustausch eingeladen werden.