Eine neue Lebensader für Tiflis

Bekommt die georgische Hauptstadt wieder eine Straßenbahn?    

Von Daniel Nitsch    

Wenn die Zeichen nicht trügen, steht dem Öffentlichen Nahverkehr in Tiflis eine Kehrtwende bevor: Am 6. April präsentierte eine französische Consulting-Firma Pläne für eine neue Straßenbahnlinie. Im Oktober 2010 bereits hatte Präsident Saakaschwili die Wiedererrichtung eines Straßenbahnnetzes in Tiflis angekündigt, das einen „ökologischen, sauberen, sicheren und effizienten Verkehr in der Stadt“ gewährleisten soll. Diese Ankündigung kam durchaus überraschend, war doch eine der ersten Reformen seiner Amtszeit die Einstellung der veralteten elektrischen Verkehrsträger Straßenbahn und O-Bus im Dezember 2006.

Die Geschichte des Öffentlichen Nahverkehrs in Tiflis ist tatsächlich wechselhaft. Einst existierte ein großes und zuverlässiges Netz an Straßenbahnen und O-Bussen, welches durch das – nach Moskau, Leningrad und Kiew – viert älteste Metronetz der Sowjetunion ergänzt wurde. Doch in den Jahren nach der Unabhängigkeit, als der junge Staat in Bürgerkrieg und Chaos versank, war auch die Zeit des Niederganges des öffentlichen Verkehrs. Die Wartung von Fahrzeugen und Streckeninfrastruktur musste mangels finanzieller Mittel vernachlässigt werden. In den Jahren 1992 bis 1995 wurden beispielsweise etwa 60 Trolleybusse und 100 Straßenbahnwagen der damals neuesten Generation, Baujahre 1983-1987, verschrottet. Teilweise wurden sie zu Ersatzteilspendern, um den Betrieb der übrigen Fahrzeuge aufrechtzuerhalten, den größten Teil verkaufte man jedoch unter der Hand als Altmetall. Der öffentliche Nahverkehr kam mit Ausnahme der Metro fast vollständig zum Erliegen. In die Bresche sprangen private Anbieter mit ihren Minibussen, die Marschrutkas. Sie sind bis heute ein integraler Bestandteil des öffentlichen Verkehrs und wickeln über 50 % aller Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln ab. Der elektrisch betriebene Nahverkehr wurde sukzessive kaputt gespart und durch Dieselbusse ersetzt.

Die heutige große Zahl an Linien, die mit kleinen Marschrutkas und Bussen betrieben wird, erlaubt zwar eine umsteigefreie Fahrt zwischen fast allen Punkten der Stadt, tragen jedoch auch zur Unattraktivität des öffentlichen Nahverkehrs bei. Bei der Liniendichte ist es praktisch unmöglich, den Überblick zu behalten, welche Linie wohin fährt, zumal auch keine Netzpläne existieren. Und die viel zu kleinen Fahrzeuge sind in der Hauptverkehrszeit stets überfüllt, was dazu führt, dass oft Fahrgäste zurückgelassen werden müssen. Die große Zahl an Fahrzeugen leistet außerdem zum Verkehrschaos und zur Luftverschmutzung einen signifikanten Beitrag.

Im Herbst 2010 wurde die französische Consultingfirma Systra damit beauftragt, die Verbesserungspotentiale im Stadtverkehr zu evaluieren und konkrete Vorschläge zu liefern. Das Ergebnis:  eine Straßenbahnlinie moderner Bauart – heutzutage als „Light Rail“ bezeichnet. Die 14,3 Kilometer lange Linie soll die Strecke von der Universität in Saburtalo zum Busbahnhof nach Ortatschala in 34 Minuten bewältigen.

Diese Linie stellt eine ausgezeichnete Ergänzung zum immer noch als Rückgrat funktionierenden Metronetz dar, und erschließt dicht besiedelte Stadtviertel, die derzeit noch ohne hochrangiges öffentliches Verkehrsmittel auskommen müssen. Als Nebeneffekt werden Straßenzüge von Autos befreit, zum Beispiel die Perowskaja, die als Fußgängerzone mit Straßenbahnbetrieb vorgesehen ist.

Im Bericht von Systra wurden erstmals die Probleme des städtischen Verkehrs in Tiflis mit wissenschaftlichen Methoden analysiert. Der unattraktive öffentliche Verkehr ist verantwortlich für die dramatische Zunahme des Individualverkehrs, was andererseits  zu weiteren Einnahmenverlusten der Verkehrsbetriebe führt, die deswegen das Angebot reduzieren müssen. Ein Teufelskreis, den es nun zu durchbrechen gilt, denn noch immer besitzen nur ein Drittel aller Haushalte ein Auto. Eine westeuropäische Motorisierungsdichte ohne regulierende Maßnahmen würde die Stadt den Verkehrskollaps bescheren.

Straßenbahnen galten lange Zeit als veraltetes Verkehrsmittel und wurden in der Nachkriegszeit durch Busse verdrängt. Doch seit den 1990er-Jahren erleben sie – nicht nur in Europa – eine Renaissance. Besonders Frankreich, wo bis 1980 fast alle Straßenbahnbetriebe eingestellt wurden, setzt nun massiv auf Straßenbahnen. Aber auch in zahlreichen Großstädten der Türkei entstanden seit 2000 erfolgreiche Straßenbahnnetze. Straßenbahnen sind bezüglich Kapazität und Fahrkomfort Bussen wesentlich überlegen. Gleichzeitig sind sie jedoch bei moderner Bauart U-Bahnen bezüglich Kapazität und Geschwindigkeit nur geringfügig unterlegen, und das bei deutlich geringeren Bau- und Betriebskosten. So kann man für den Preis für einen Kilometer U-Bahn etwa zehn Kilometer Straßenbahn bauen. Zum Vergleich: Während der Bau der 14 Kilometer langen Straßenbahnlinie inklusive aller notwendigen Infrastruktureinrichtungen auf 143 Millionen Euro geschätzt wird, kommt die Fertigstellung der 1,5 Kilometer langen Metrostrecke von Wascha-Pschawela zur Universität auf 26 Millionen Euro, und das, obwohl dieses Teilstück bereits vor 1993 fast fertig gestellt wurde.

U-Bahnen sind selbst bei großer Bevölkerungsdichte wirtschaftlich nur schwer zu betreiben, während jedoch Straßenbahnen bei fast genauso hohem Nutzen bereits in kleineren Städten oder weniger dicht besiedelten Gebieten rentabel sind. Das Mehr an Reisezeit auf längeren Strecken, verglichen mit der U-Bahn, kompensiert die Straßenbahn auf der Kurz- und Mittelstrecke. Da eine Straßenbahn mehr Haltestellen hat, die auch noch an der Oberfläche liegen, sind die Zugangswege deutlich kürzer, was sich auf die Gesamtreisezeit positiv auswirkt.

Im Vergleich zum Bus ist bei einer Straßenbahn der höhere Fahrkomfort ausschlaggebend. Bei Umstellung einer Buslinie auf Straßenbahn steigen die Passagierzahlen wegen diesem Schienenbonus deutlich. Doch auch die Betriebskosten sind bereits bei moderaten Fahrgastzahlen deutlich niedriger als beim Busbetrieb. Der Verband deutscher Verkehrsunternehmen rechnet, dass bereits ab 5000 Fahrgästen pro Betriebstag eine Straßenbahnlinie wirtschaftlicher ist als eine Buslinie. Gleichzeitig geht der Verband auch davon aus, dass alleine durch die Umstellung einer Buslinie auf Straßenbahnbetrieb die Fahrgastzahlen um 20-30 Prozent steigen.

Auch die Initiative „Tbilisis Tramvai“, die bereits vor einigen Jahren begonnen hat, für die Wiedererrichtung der Straßenbahn zu trommeln, spielte die Geldkarte aus, um der Stadt die Straßenbahn schmackhaft zu machen: Sieben Straßenbahnen können zehn Busse ersetzen, und während sieben Straßenbahnen pro Tag 131 Lari für Strom benötigen würden, benötigen zehn Busse über tausend Lari für Diesel. Ein Busfahrgast verursacht den Verkehrsbetrieben 29 Tetri an Ausgaben, ein Straßenbahnfahrgast jedoch nur fünf Tetri. Die knapp zehnmal so hohen Anschaffungskosten für eine Straßenbahn (ca. 2-2,5 Mio Euro) gegenüber einem Bus (ca. 250.000 – 300.000 Euro) werden durch die deutlich längere Lebensdauer einer Straßenbahn teilweise wettgemacht. Während Stadtbusse nach 10-15 Jahren ausgetauscht werden müssen, haben Straßenbahnen eine mehrere Jahrzehnte lange Lebensdauer. 40 Jahre alte Wiener Straßenbahngarnituren wurden beispielsweise an Krakau verkauft, wo sie, modernisiert, mindestens weitere 20 Jahre im Dienst stehen werden. Und die über 80 Jahre alten „Ventotti“ sind immer noch ein verlässliches Arbeitspferd im Mailänder Stadtverkehr.

Ein weiteres Plus der Straßenbahn ist der elektrische Antrieb. Dadurch ist sie leiser als ein Bus und verursacht auch keine Abgase. Da Georgien den Inlandsbedarf an elektrischem Strom mit Wasserkraft komplett im Land produzieren kann, ist es nur logisch, auch im Verkehr auf diesen Energieträger zu setzen, und nach und nach die Abhängigkeit von Erdöl, das teuer importiert werden muss, zu verringern.

Doch die neue Straßenbahnlinie erfordert eine hohe Investition – die Errichtungskosten werden auf 143 Millionen Euro geschätzt. Zehn Millionen Euro pro Kilometer, das ist im internationalen Vergleich nicht viel, beinhaltet dieser Betrag doch auch 21 Fahrzeuge, ein Depot und sämtliche Infrastruktureinrichtungen. Es ist dennoch eine Menge Geld für eine Stadt wie Tiflis. Systra schlägt für die Finanzierung ein Public-Private-Partnership-Modell vor und kommt in der Analyse zu dem Schluss, dass die Straßenbahnlinie nach 20 Jahren finanziell rentabel sein wird.

Jean-Manuel Giely, der Projektverantwortliche von Systra, erklärt, dass zahlreiche Vorschläge zu technischen Details gemacht wurden, wie Spurweite und Wagentypen. Die Entscheidung, ob, wann und wie dieses Projekt umgesetzt wird, liegt nun bei der Stadt. Fällt die Entscheidung rasch, könnten bereits 2015 wieder Straßenbahnen durch Tiflis rollen.

Auch die Gruppe „Tbilisis Tramvai“ freut sich über das Projektergebnis, befürchtet aber, dass es an den von Systra kalkulierten Kosten scheitern könnte. Sollte das Projekt jedoch ein Erfolg werden, ist Jean-Manuel Giely überzeugt, dass in Zukunft wieder ein ganzes Straßenbahnnetz in Tiflis entstehen kann.

Ein Wermutstropfen im städtischen öffentlichen Verkehr ist jedoch die derzeit in Bau befindliche Eisenbahnumfahrung, mit der die innerstädtischen Bahnlinien samt Zentralbahnhof aufgelassen werden sollen. Durch diese Maßnahme erhofft sich die Stadt große Einnahmen aus dem Verkauf der Grundstücke, verbaut sich jedoch für die Zukunft viele Möglichkeiten, den Regionalverkehr attraktiver zu gestalten. „Tbilisis Tramvai“ zeigt die Möglichkeit auf, ein integriertes Bahn-Straßenbahnnetz zu schaffen, wie es beispielsweise im Großraum Karlsruhe sehr erfolgreich angewandt wird. Diese Möglichkeit wurde auch von Systra der Stadt nahe gebracht, jedoch erfolglos. Auch eine Verknüpfung von Tiflis mit den regionalen Zentren Mzcheta und Rustawi über eine hochleistungsfähige innerstädtische Bahnachse, ähnlich der deutschen S-Bahn-Netze, wird damit unmöglich.