Vorhängeschlösser und Wasserwerfer ersetzen den politischen Diskurs


Die georgischen Politiker und Parteien, Regierung und Opposition und jeder auf seine Weise, haben es wieder einmal geschafft, die Politik auf der Straße zu veranstalten. Blockade des Parlaments und Wasserwerfer – diese Bilder gingen um die Welt und haben vielerorts zu vorschnellen Urteilen geführt, die man mit mehr Nähe zu Ort und Geschehen vielleicht ganz anders hätte fällen müssen. Dabei ist anzumerken, dass die „Unruhen“ in Tiflis im Vergleich zu denen in Hongkong oder im Iran, die etwa zeitgleich abliefen, bei aller Aufgeregtheit der Akteure wohl eher Sandkastenspiele im politischen Kindergarten waren. Aber das ist ja nicht unbedingt eine neue Erkenntnis. Sicher, auf dem Höhepunkt der Proteste waren es zwischen 10.000 und 20.000 Menschen, die den Rustaveli vor dem Parlament blockierten. Oft genug standen aber nur ein paar Hundert Leute mit ein paar Zelten für den Protest der Opposition, der vollmundig unter dem Motto ablief „Alle minus einen“, also alle Parteien gegen eine, den Georgischen Traum.

Zunächst zur Vorgeschichte. Es geht um eine Änderung des Wahlrechts. Nach den heftigen Demonstrationen im Juni hatte die Regierungspartei „Georgischer Traum“ eher widerwillig denn aus Überzeugung eine Änderung des Wahlrechts zugesagt. Die durchaus umstrittene Kombination von Verhältniswahl und Mehrheitswahl sollte durch eine reine Verhältniswahl abgelöst werden. (siehe auch: „Welches Wahlrecht für Georgien“ und „Kommentar“). Große Teile der Bevölkerung und die gesamte Opposition hatten an dieses Versprechen geglaubt, zumal es vom  Parteivorsitzenden und „Gottvater hinter den Kulissen“, Bidsina Iwanischwili, höchstpersönlich abgegeben wurde. Dann aber die große Enttäuschung, als das Parlament vor ein paar Tagen diese Wahlrechtsänderung mit knapper Mehrheit ablehnte. Und dies, obwohl die Abgeordneten der Opposition dem Gesetz geschlossen zugestimmt hatten. Es lag an der Regierungsfraktion, die eigentlich mit ihrer verfassungsändernden Mehrheit das Gesetz im Alleingang hätte verabschieden können. Aber einige ihrer Abgeordneten erschienen gleich gar nicht zur Parlamentssitzung, andere nahmen an der Abstimmung nicht teil oder enthielten sich und ein paar wenige stimmten dann gegen das Gesetz. So bleibt es im nächsten Jahr beim alten Kombinations-Wahlrecht, ein reines Verhältniswahlrecht ist allerdings bereits für das Jahr 2024 bereits verabschiedet.

Der Aufschrei in der Opposition in und außerhalb des Parlaments war groß und ist deshalb auch verständlich, weil man sich vom eigentlichen Herrn des Landes, dem „Manne vom Berg“, wie er hierzulande wegen seines futuristischen Geschäftszentrums oberhalb der Hauptstadt genannt wird, verraten und betrogen fühlte. Dieser Vorwurf ist deshalb nachvollziehbar, weil nicht wirklich ausgeschlossen werden kann, dass Iwanischwili sich nur deshalb so engagiert hinter den Vorschlag Verhältniswahl stellte, weil er von vorneherein damit rechnen konnte, dass ihm nicht alle seiner Parteifreunde im Parlament folgen würden. Denn diese, sie stellen die Mehrheit seiner Fraktion, verdanken ihren Parlamentssitz den Direktmandaten in den Wahlkreisen. Von den 115 Abgeordneten, die der Georgische Traum bei den Wahlen 2016 erreichte, waren 71 direkt gewählt, nur 44 über die Verhältniswahl und Parteienliste. Schon allein aus menschlichem Selbsterhaltungstrieb heraus war damit zu rechnen, dass einige von ihnen dem neuen Gesetz nicht zustimmen können, bedeutet doch ein Sitz im Parlament auch auf anderen Gebieten, wirtschaftlichen etwa, einen gewissen Einfluss zu haben und Verbindungen. Und wer sägt sich schon freiwillig den Ast ab, auf dem er sitzt? Iwanischwilis treuherzige Bekundung, er bedauere am meisten, dass das Parlament seinem Vorschlag nicht gefolgt sei, wurde ihm von großen Teilen der Bevölkerung und von der gesamten Opposition einfach nicht abgenommen. Der Vorwurf des Betrugs am georgischen Volk stand wie selbstverständlich im Raum und niemand hat ihn hinterfragt, wenngleich – rein formalistisch betrachtet – es letztendlich keinen wirklich schlüssigen Beweis dafür gibt. Und Bidsina kann weiter für sich die Rolle des Unschuldsengels reklamieren. Vielleicht doch ein abgekartetes Spiel? Es spricht einiges für diese Annahme.

Bei den Demonstrationen vor dem Parlament wurde schnell klar, dass hinter den meist jugendlichen Organisatoren auch alle führenden Köpfe der Opposition standen. Im Gegensatz zu früheren Konfrontationen auf der Straße hielt sich die Polizei jedoch auffällig zurück, erklärte immer, sie schütze Meinungsfreiheit und Demonstrationsrecht, auch wenn es durch Straßen-Blockaden etwa zu erheblichen Einschränkungen für die Bevölkerung komme. Gleichzeitig warnte sie aber davor, den Rahmen der Gesetze zu verletzen. Und genau dies passierte zweifelsohne, als die Demonstranten unter Anleitung von Parteigrößen der Opposition alle Zugänge zum Parlamentsgebäude von außen mit Ketten und schweren Vorhängeschlössern absperrten und überdies mit Sandsack-Barrikaden verhindern wollten, dass Abgeordnete ihrem Verfassungsauftrag nachkommen konnten und dies im offiziellen Sitz der höchsten Institution im Land, dem Parlament. Wasserwerfer fuhren auf, die Polizei gab deutliche Warnungen und setzte Fristen, die Blockade aufzuheben. Nichts geschah. Und so sahen die Behörden schließlich keine andere Möglichkeit, ihren Auftrag, Recht und Verfassung zu schützen, nachzukommen als mit Wasserwerfern die Demonstration aufzulösen. Ein Vorgehen, das in vielen Ländern Europas nicht anders zu erwarten gewesen wäre, auch in Deutschland. Anzumerken wäre vielleicht nur, dass man sich ein ähnlich engagiertes und professionelles Eingreifen der Behörden wünsche könnte, wenn es um den Schutz der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit von Minderheiten geht.

Dass der Platz vor dem Parlament – im Gegensatz zu den Tumulten im Juni – in nicht einmal einer Stunde geräumt war und das ohne eine nennenswerte Anzahl von Verletzten, spricht wohl dafür, dass die Einsatzkräfte im letzten Vierteljahr doch etwas dazu gelernt haben. Auch dafür, dass der Protest der Opposition dann doch nicht so massiv war, wie erwartet. Zur Erinnerung: Saakaschwili hatte vor knapp zwei Jahrzehnten fast 100.000 Menschen auf die Straße gebracht, um Schwardnadse aus dem Amt zu jagen.

Wie geht es weiter? Vermutlich wird es keine parlamentarische Initiative mehr geben können, das Wahlrecht noch vor dem nächsten Urnengang im Herbst 2020 zu ändern. Dazu fehlen die Zeit und – vor allem – die Bereitschaft aller politischen Kräfte, sich auf einen tragfähigen Kompromiss zu einigen. Auch die Forderung nach einer Übergangsregierung wird kaum durchsetzbar sein. Die Regierenden haben sich anscheinend dazu entschlossen, das erst einmal auszusitzen und den Schwarzen Peter der Opposition zuzuschieben, vor allem den Parteien, die aus der UNM Saakaschwilis hervorgegangen sind. So darf man auf den Wahlkampf gespannt sein, die – vermutlich bakannten – Schlachten, die da geschlagen werden, und auf das Wahlergebnis. Denn auch nach dem alten Wahlrecht wird es für den Georgischen Traum fast unmöglich, seine satte Zweidrittel-Mehrheit zu verteidigen, wenn dieaktuellen Meinungsumfragen sich bewahrheiten. 2016 stimmte noch 49 % der Wählerschaft für Iwanischwilis Partei, jetzt dümpelt sie, realistisch gesehen, unter der 30-%-Marke. Sollte die Opposition allerdings ihr Versprechen umsetzen und sich in jedem Wahlkreis auf einen gemeinsamen Direktkandidaten einigen, dann würde Iwanischwili seine „Alleinherrschaft“ auch so verlieren und der politische Diskurs könnte dann – endlich, ist man geneigt zu sagen – im Parlament stattfinden und nicht mehr auf der Straße.