Eine Putzfrau und ihr Umgang mit der Geschichte

Premiere im Badischen Staatstheater Karlsruhe: „Tiger und Löwe“
Eindrucksvolle Ko-Produktion mit dem Royal District Theatre in Tiflis

Die Schlussszene ist auch die eigentliche Schlüsselszene dieses Stücks. Ganz in Weiß verlieren sich die Brautleute, Stalins Geheimdienstsekretär und die zur Hochzeit gezwungene Tochter eines Schriftstellers, der zuvor von eben diesem Geheimdienst hingerichtet worden war, beide ganz in Weiß verlieren sie sich an ihrer großen Hochzeitstafel, die den gesamten, durchaus stattlichen Bühnenraum einnimmt. Und während der Bräutigam der Reihe nach typisch georgische Trinksprüche ausbringt auf die Eltern, auf die Liebe, auf die Zukunft, auf den Genossen Stalin und die Errungenschaften der sozialistischen Gesellschaft, während dieser Funktionärs-Supra der späten 30-er Jahre des letzten Jahrhunderts also läuft auf der Bühne parallell ein weiterer, ein ganz anderer Film ab: Ein NKWD-Soldat (NKWD = russisch für Volkskommisariat für Innere Angelegenheiten) verhört einen Schriftsteller (den wievielten in diesem Stück eigentlich?), der in einem Wortschwall ohnegleichen seine Kollegen des ideologischen Verrats bezichtigt und sie so dem sicheren Tod des stalinistischen Terrors ausliefern muss, bevor er schlussendlich selbst hingerichtet wird. Und die Brautmutter, die Frau des zu Beginn des Stückes hingerichteten Schriftstellers, die ihre Tochter dem Schergen des Terrors als Ehepartnerin ausliefern muss, nur um sich selbst vor dem finalen Zugriff des Terrorsystems zu retten, diese Witwe des Terrors also kommentiert das Geschehen auf den zwei Ebenen mit Binsen-Weisheiten wie dieser: „Verzeihen wir den Toten mehr als den Lebenden?“

Großes Theater, gleichermaßen skurril und absurd, das in einem eindrucksvoll-minimalistischen Szenenbild und einer Handlung von 90 Minuten konzentriert vor Augen führt, was in jeder georgischen Familie an Geschichten und Erfahrungen über den Stalin-Terror auch heute virulent sein dürfte. Und dies in der durchaus überschaubaren Gesellschaft von Tiflis, in der jeder jeden kennt, in der jeder mit jedem befreundet ist oder gar verwandt, in der Kinder und Enkelkinder von Tätern wie Opfern heute wie seit Jahrzehnten keine andere Chance haben, als miteinander auszukommen, weil es in nahezu jeder Familie Täter gab und Opfer, weil oft genug auch die Opfer von einer gewissen Mittäterschaft nicht freizusprechen waren. Es ist daher kaum verwunderlich, dass die Aufarbeitung des Stalin-Terrors in Georgien noch immer in den Kinderschuhen steckt, auch wenn man bedenkt, dass das Ende des zweiten Weltkriegs dort  mehr als vier Jahrzehnte nach uns erst erfolgte, mit dem Ende der UdSSR nämlich. Bis dahin – und auch noch einige Jahre länger – war Stalin nur eines: der größte Sohn Georgiens, der, der Hitler besiegte. Und das hatte man sich durch keine Entstalinisierung Chruschtschows nehmen lassen. Stalin-Monumente waren bis vor zehn Jahren in Georgien kaum weg zu denken, was nichts über die mögliche politische Renaissance des Stalinismus etwa aussagen konnte: Bei Wahlen kamen die Stalinisten, selbst dessen Neffe, nicht annähernd an die statistische Wahrnehmungsgrenze heran. Aber der Stalin-Terror wurde erst mit dem mehr als nur fragwürdigen politisch-propagandistischen Versuch des so genannten „Okkupationsmuseums“ in Tiflis thematisiert und dies erst in Folge und daher auch in recht fragwürdigem Zusammenhang des Süd-Ossetien-Krieges von 2008. Es ging dem Initiator dieses Museums, dem damaligen und mittlerweile geschassten Staatspräsidenten Mikhail Saakaschwili, nicht um eine historisch saubere Geschichtsaufarbeitung, es ging ihm nur darum, das Ergebnis des von ihm angezettelten Krieges um Süd-Ossetien, den er gnadenlos verloren hat, in einen größeren historischen Zusammenhang zu bringen: Die Panzer Putins in Zchinvali des Jahres 2008 in einer geschichtlichen Linie, die im Stalin-Terror der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts ihren Ursprung hat. Und dies, während in Gori, der Geburtsstadt Stalins, in der im Jahr 2008 ebenfalls russische Panzer standen, heute das Phänomen Stalin touristisch wieder gnadenlos und auch erfolgreich vermarktet wird. Dabei geht es nicht um das Stalin-Museum aus dem Jahr 1957, das nach wie vor unverändert ist. Das darf wirklich nicht angetastet werden, denn das Museum ist das Museum und erklärt auf seine Art einen wichtigen Teil der Geschichtsschreibung. Die kleine Kammer unterhalb des Trappenaufgangs, in der die Verbrechen des Stalinusmus thematisiert werden sollen (wieder in Zusammenhang mit Zchinvali 2008) darf man getrost unter der Rubrik Peinlichkeit abtun. Aber die Devotionalien-Geschäfte rund um das Museum, unter anderem auch das des Museums selbst, das damit dem georgischen Bildungsministerium gehört, dies alles verdeutlicht schon, das Stalin auch heute in Georgien kaum hinterfragt oder gar aufgearbeitet wird, sondern nur instrumentalisiert, politisch-propagandistisch oder kommerziell.

Da tut es wirklich gut, dass junge georgische Theatermacher wie Davit Garbunia (Autor) und Data Tavadze (Regie) sich der Zeit dieses Terrors völlig ohne Interesse-gesteuerten Hintergedanken annehmen, es sei denn diesem, sich der historischen Wahrheit anzunähern oder sich ihr und ihren Fragen wenigstens zu stellen. Und das mit all den sinnlichen Mitteln, die dem Theater-Schaffenden nun einmal zur Verfügung stehen. Zusammen mit dem Ensemble des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, seiner Mitarbeiter*innen in Dramaturgie und Technik haben sie in dem Stück „Tiger und Löwe“ einen wichtigen Impuls zur Aufarbeitung dieses Teils der georgischen Geschichte gegeben, wie er in der jüngsten Vergangenheit wohl nur von Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben – für Brilka“ geleistet wurde, ein Geschlechter-Roman, der vom Hamburger Thalia-Theater in einer faszinierenden Inszenierung auf die Bühne gebracht wurde. Das weitaus bescheidenere Theaterprojekt Karlsruhe-Tiflis muss sich allerdings hinter dem Mega-Event von Hamburg nicht verstecken. Auch in Karlsruhe wird den Zuschauern ein Theater geboten, das sie nicht eine Sekunde unbeteiligt lässt, ganz einfach, weil hier Geschichte intensiv erzählt, intensiv in Szene gesetzt und auch ebenso intensiv gespielt wird.

Und was hat das alles mit einer Putzfrau und ihrem Umgang mit der Geschichte zu tun? Ganz einfach: Während fünf Akteure des Stückes – der Schriftsteller, seine Ehefrau, deren Tochter, der Funktionär und der Soldat – fiktiv sind und namenlos und damit im Verlauf des Stückes ihre Rollen mit unterschiedlichen Personen und Geschichten besetzen können – und dies auch tun -, hat nur die Putzfrau einen Namen: Anitschka.

Es gab tatsächlich eine Putzfrau dieses Namens und zwar im Haus der Schriftsteller Georgiens, jenes sozialistischen Zwangsverbandes der schreibenden Zunft, dessen Jugendstilgebäude samt Innenhof auch heute noch ein Juwel in der Altstadt von Tiflis darstellt. Dieses Gebäude hat die Dramen um insgesamt 110 georgische Autoren erlebt, die im Jahr 1937 dem stalinistischen Terror zum Opfer fielen. Einer von ihnen, Paolo Iaschwili, nahm sich im Schriftstellerhaus mit einem Schuss aus seinem Jagdgewehr das Leben. Anitschka, die Putzfrau, hat ihn entdeckt und die Blutspritzer an den beiden Glas-Vitrinen im Obergeschoss des Schriftstellerhauses, in denen – auch heute noch – die Figuren des Löwen und des Tigers ausgestellt sind, entfernt. Sie, die ausgestopften Tiere und Anitschka, sind demnach die wichtigsten, weil vermutlich die einzigen Zeugen dieses Teils der Geschichte, auf die sich die Theatermacher berufen können. Daher auch die Aufforderung im Schlussmonolog der Putzfrau, die das ganze Stück über nahezu stumm begleitet, nur dann wieder Besucher in das Haus der Schriftsteller und damit wohl auch in das fiktive Haus der Geschichte zu lassen, wenn alle „Blut“-Spuren der Geschichte beseitigt sind. Putzfrauen aller Länder vereinigt Euch, wollte man eigentlich ausrufen.

Ganz nebenbei: In diesem Haus, dem Haus der Schriftsteller Georgiens, hat vor etwa zwei Jahren ein bundesdeutscher Außenminister eine Presse-Konferenz und eine Gartenparty gegeben, ohne auch nur einen Gedanken an die Geschichte dieses Hauses verschwendet zu haben. Anscheinend haben die Putzfrauen der Geschichte ganze Arbeit geleistet.

Das Stück „Tiger und Löwe“ wird im Badischen Staatstheater Karlsruhe in dieser Spielzeit noch öfter gezeigt, zum letzten Mal am 19. Juli. Es wird aber in die nächste Spielzeit übernommen und bleibt den Interessenten von Geschichte und deren Deutung, nicht nur der georgisch-stalinistischen, erhalten. Mehr Infos unter: www.staatstheater-karlsruhe.de.
Die nächsten Termine: 11. und 18. Mai.

Besonders interessant für Freunde des deutschen Theaters in Georgien: Das Stück wird vom 14. bis 16. September dieses Jahres im Royal District Theatre in Tiflis gezeigt.

Rainer Kaufmann
Fotos: Badisches Staatstheater