Überraschungs-Revolution mit offenem Ausgang

Wie aus einem Nobody ein politischer Hauptdarsteller wurde

Noch ist, während diese Zeilen online gestellt werden, völlig unsicher, wie die armenische Regierungskrise ausgeht. Auch ist unsicher, ob Oppositionsführer Nikol Pashinian heute zum Interims-Ministerpräsidenten gewählt, obwohl die Regierungsmehrheit der Republikanischen Partei keinen Gegenkandidaten nominiert und statt dessen erklärt hat, der Wahl eines „Volks-Kandidaten“ nicht im Wege stehen zu wollen. Das heutige Verhalten der System-Abgeordneten im Parlament jedenfalls lässt den Schluss nicht zu, dass sie den Führer der Volkserhebung auch tatsächlich zum Regierungschef wählen wollen.

Offen bleibt aber auch, wie dieser Mann, der zur Überraschung vieler Beobachter über die Mobilisierung der Straße das Oligarchen-System ins Wanken bringen konnte, überhaupt eine handlungsfähige Regierung bilden kann, sollte er denn gewählt werden. Verweigert sich die bisherige Elite, die mit 58 von 105 Parlamentssitzen die absolute Mehrheit besitzt, einer Kooperation in der angedachten Allparteien-Regierung, dann steht dem Land ein politischer Stillstand bevor, der über Monate hinweg dauern kann. Nikol Pashinian, der nichts anderes will als über Neuwahlen die Machtelite der vergangenen Jahrzehnte völlig kalt zu stellen, hat trotz des einen oder anderen Etappensieges noch eine weite Strecke vor sich. Ausgang völlig ungewiss.

Dennoch hat er in wenigen Tagen der letzten Woche etwas erreicht, was vor etwa zwei Wochen noch völlig aussichtslos erschien. Da konnten sich die Regierenden noch in dem sicheren Glauben wiegen, die Straßenproteste mit Mitteln konventioneller staatlicher Repression eindämmen zu können. Pashinian, dessen Partei gerade einmal drei Prozent der Abgeordneten stellt, stand nämlich ohne jeden Verbündeten in der politischen Landschaft Armeniens da, auch ohne moralische Unterstützer aus dem Ausland. Das hat sich in wenigen Tagen geändert. Aus dem Nobody wurde ein Hauptdarsteller, an dem zumindest in Eriwan derzeit keiner vorbei kommt. Wie konnte das geschehen? Die Mehrheit der völlig verarmten und perspektivlosen Bevölkerung des Landes hatte die Selbstbedienungs-Mentalität der regierenden Clique offensichtlich so satt, dass es nur eines kleinen Hoffnungsfunkens bedurfte, um einen veritablen Flächenbrand auszulösen. Ein Vorgang, der auch andernorts Nachahmer finden könnte, wenngleich das Missverhältnis zwischen Arm und Reich nirgendwo so krass ist wie in Armenien. Aber, wenn die Mehrheit der Bevölkerung am wirtschaftlichen Erfolg keinen Anteil hat, kann ein zu allem entschlossener Einpeitscher die Massen auf die Straße bringen. Eines allerdings, was vor allem in einigen westlichen Medien in die Ereignisse hinein interpretiert wurde, stimmt nicht: Diese armenische „Revolution“ richtet sich nicht gegen den Hauptverbündeten des Landes, Russland. Auf dessen Rolle in den nächsten Wochen und Monaten allerdings darf man gespannt sein.

Rainer Kaufmann