Von der Verharmlosung eines umstrittenen Politikers

Filmkritik:“Vor dem Frühling“ von Rainer Kaufmann

 Vorbemerkung:
Der frühere deutsche TV-Journalist und jetzige Herausgeber der Kaukasischen Post  Rainer Kaufmann lebt seit den frühen 90-er Jahren überwiegend in Georgien und hat die politische Entwicklung von Gamsachurdia über Schewardnadse und Saakaschwili bis heute vor Ort miterlebt und journalistisch begleitet. Er hat mehrere Bücher über Georgien geschrieben und mehr als 15 TV-Dokumentationen für deutsche Sender produziert. Gleich nach dem Putsch gegen Gamsachurdia im Januar 1992 war er in Tiflis, ebenfalls im Sommer/Herbst 1993, dem Zeitraum, in dem die Handlung des Filmes spielt. Einige der engeren Mitarbeiter Gamsachurdias, die später in Opposition zu ihm gingen, sowie dessen Sohn Konstantin hat er persönlich gekannt.

 

Der erste Eindruck vom Film „Vor dem Frühling“ des georgischen Regisseurs George Ovashvili: Großes Erzählkino; meisterhafte, wenngleich minimalistische Kameraführung, die sogar die immer wieder gleichen Szenen einer wilden Gruppe, die sich durch die verschneite Landschaft kämpft, niemals langweilig werden lässt. Keine Frage, solches Kino muss man können. Minimale Dialoge, kaum Handlung und doch eine spannende, unter die Haut gehende Parabel von einem, der lernen muss, dass ihm die Macht entglitten ist. Und, ganz nebenbei: Eine mehr als nur ansprechende Darstellung der ursprünglichen georgischen Männergesellschaft, wie sie auch in den Bergen heute immer seltener anzutreffen ist mit Trinksprüchen, Gesang, wildem Tanz und bei aller Armut und Bescheidenheit dennoch üppigen Gastmählern.

Soweit so gut, würde es sich bei der Hauptfigur, deren Geschichte da erzählt wird, nicht um Sviad Gamsachurdia handeln, den ehemaligen ersten Präsidenten des unabhängigen, post-sowjetischen Georgiens. Nach einigem Abstand vom wirklich eindrucksvollen Film drängt sich dann aber immer stärker die Frage auf: Kann man einen Film über eine Person der Zeitgeschichte machen, ohne sich mit der Politik, die mit dieser Person zu verbinden ist, und deren Folgen zu beschäftigen? Kann man eine historische Figur völlig ihrer eigenen Geschichte „entmanteln“, in dem man sie als Noch-immer-Präsident in Anzug, Krawatte und – eben sehr symbolisch – ein und demselben Mantel samt Aktentasche immer wieder durch den Schnee stapfen lässt, begleitet von einem Haufen mehr oder weniger schwer bewaffneter Getreuer? Auf der Flucht vor Leuten, „Junta“ genannt, die ihn, der sich noch immer als gewählter Vertreter seines Volkes fühlt, verfolgen? Kann man einen, der historisch nicht ohne eigenes Zutun, man könnte es auch Schuld nennen, in diese Situation gekommen ist, völlig verharmlosen und auf einen tragisch Gescheiterten reduzieren, dessen Sanftmut den ganzen Film dominiert und den Betrachter in seinen Bann zieht?

Ich denke, man kann es eigentlich nicht, schon gar, wenn die wenigen historischen Informationen, die zur Einordnung des Geschehens eigentlich nötig wären, überaus

Gamsachurdia-Foto in einem westgeorgischen Haushalt

einseitig und dazu noch lückenhaft gegeben werden. Deshalb die wichtigsten historischen Fakten: Sviad Gamsachurdia, zu Sowjetzeiten schon Dissident, allerdings mit eher zweifelhaftem Ruf, gewann als Führer der nationalen Unabhängigkeitsbewegung im Oktober 1990 die Wahlen zum Obersten Sowjet der Sozialistischen Sowjetrepublik Georgien und führte das Land im April 1991 in die Unabhängigkeit. Im Mai 1991 wurde er zum ersten Präsidenten des Landes gewählt. Keine Frage, eine historische Leistung. Dann aber entpuppte er sich als Autokrat und entwickelte nahezu diktatorische Züge im Innern. Gleichzeitig machte seine Parole „Wir Georgier sind endlich Herren im eigenen Haus und alle anderen sind unsere Gäste“ die nationalen Minderheiten – Abchasen, Osseten, aber auch Armenier und Aserbaidschaner – zu Menschen zweiter Klasse, statt sie – knapp 30 % der Bevölkerung – in die neue Freiheit und auf Augenhöhe mitzunehmen. Diese Politik ist der eigentliche Beginn der territorialen Konflikte, die das Land bis heute in seiner Entwicklung limitieren. Der Nationalist Gamsachurdia sah in seinen Georgiern das „erstgeborene“ und „proto-arische“ Volk Europas. Manch eine öffentliche Rede Gamsachurdias, vor allem die zum 1. Jahrestag der Unabhängigkeit am 9. April 1992 im Dynamo-Stadion in Tiflis, hatte so gut wie gar nichts mit dem sanftmütigen, weisen Mann des Ovashvili-Films zu tun. Diese Rede – sie wurde mir damals in einer Video-Aufzeichnung vorgeführt – erinnerte eher an den Berliner Sportpalast oder einen Film von Charlie Chaplin. Und viele, die Gamsachurdia am Anfang unterstützt hatten, wandten sich von ihm ab, u.a. auch sein erster Premierminister Tengis Sigua. Als im September 1991 einige zehn tausend Demonstranten seinen Rücktritt verlangten, ließ Gamsachurdia, für den jeder Kritiker seiner Politik ein Agent des KGB war, in die Demonstranten schießen. Die Folge, der zunächst friedvolle Protest gegen Gamsachurdia führte an Weihnachten 1991 dann zu einem bewaffneten Aufstand, der viele Todesopfer forderte und mit der Flucht des Präsidenten und einiger Getreuer über Armenien nach Tschetschenien Anfang Januar 1992 endete.

 1. Gymnasium am Rustaveli-Prospekt im Januar 1992
nach dem Putsch – Fotos: Rainer Kaufmann

Tatsächlich regierte dann zunächst eine Militärjunta, die den früheren Außenminister der UdSSR, Eduard Schewardnadse, als Spitzenmann holte. Noch im selben Jahr aber, am 11. Oktober, gab es eine Parlamentswahl, aus der Schewardnadse als Parlaments- und Staatspräsident hervorging. Damit endete die völkerrechtlich durchaus fragwürdige Phase der Militärjunta, die Regierung hatte eine demokratische Legitimation, spätestens damit endete die Präsidentschaft Gamsachurdias, beziehungsweise sein möglicher Anspruch auf dieselbe. Im Frühjahr 1992 schon war Georgien von nahezu allen Ländern der Welt, u.a. EU-Staaten und USA, völkerrechtlich anerkannt worden.

Das Geschehen des Films spielt allerdings im Herbst 1993. Zwischen Georgien und Abchasien, einer Provinz, die sich für unabhängig erklärt hatte, war es zu bewaffneten Auseinandersetzungen gekommen, die – auch dank der russischen Unterstützung für die Separatisten – mit einer verheerenden Niederlage Georgiens endeten. Diese Schwäche Georgiens nahm Gamsachurdia zum Anlass, mit ihm treuen Truppen Westgeorgien – er entstammt einer alten westgeorgischen Adelsfamilie – zu erobern und in Richtung Tiflis zu marschieren. Rechtlich ein mehr als zweifelhaftes Unterfangen, hatte sich die Regierung Schewardnadse doch in sauberen Wahlen demokratisch legitimiert. Nach Anfangserfolgen im Westen wurde der Aufstand Gamsachurdias dann aber in einer gemeinsamen Militäraktion von Russland und Georgien niedergeschlagen. Der Ex-Präsident floh mit einigen Getreuen in die Vorgebirgslandschaft des Großen Kaukasus.

Und genau da fängt der Film mit seiner Erzählung an. Aber das alles, was man zur historisch-politischen Einordnung Gamsachurdias eigentlich wissen müsste, blendet der Film aus. Und deshalb bleibt auch der fahle Geschmack, dass mit diesem Film eine historische Figur mit durchaus zweifelhafter Politik eigentlich nur verharmlost wird, egal ob mit oder ohne Absicht. Ob das erlaubt ist, darf – bei aller Sympathie für das große Erzählkino Ovashvilis – angezweifelt werden. Filme über geschichtlich relevante Persönlichkeiten und Geschehen sollten dem Betrachter doch die Möglichkeit bieten, sie einzuordnen. Das Gamsachurdia-Bild, das dieser Film vermittelt, hat kaum etwas mit dem Mann zu tun, der Georgien in seiner kurzen Regierungszeit fast nur Probleme hinterlassen und das Land gespalten hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

Parlaments-Innenhof nach dem Putsch im Januar 1992