Mischa: The Show must go on?

Wie die ukrainische Regierung eine schwache Opposition stark macht

Die Szene kam dem Beobachter irgendwie seltsam vor. Zu Hause in Georgien drohen Mikhail Saakaschwili, dem früheren Präsidenten des Landes, gleich mehrere Gerichtsverfahren und – im Falle von Schuldsprüchen – langjährige Haftstrafen. In der Ukraine, seiner Wahlheimat, stand er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich als Beschuldigter vor Gericht, nachdem er vorher für ein paar Tage auch erstmals Bekanntschaft mit einer Gefängniszelle hat machen dürfen. Am Ende stand dann nach einer quälend langen Gerichtsverhandlung von einigen Stunden, bei der es nur um die Überprüfung der Untersuchungshaft ging, eine Überraschung: Saakaschwili durfte den Gerichtssaal als freier Mann verlassen, zumindest für die Zeit der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen. Die Begründung will die Richterin, die sich dem mächtigen Geheimdienst und der Staatsanwaltschaft widersetzte, nachliefern. Viel Show um nichts?

Zunächst einmal die Vorgeschichte, soweit sie aus der Ferne nachvollziehbar ist. Die lächerlichen Geldbußen, mit denen die Kiewer Behörden die illegale, weil erzwungene Einreise Saakaschwilis in die Ukraine vor etwa einem Vierteljahr geahndet hatte, ließen eigentlich den Schluss zu, dass man dem Mann ohne Staatsbürgerschaft nicht mehr allzu viel Aufmerksamkeit werde widmen wollen. Seine Partei „Neue Kräfte“ wurde in den Meinungsumfragen ohnehin unter ferner liefen geführt, zu ihren  Demonstrationen kamen nach Berichten westlicher Medien vielleicht ein paar Tausend Leute, viel zu wenig, als dass dem  Regierungssystem daraus eine echte Gefahr hätte erwachsen können. Denn das Protest-Camp in der Stadtmitte von Kiew hatte außer den unvermeidbaren Verkehrsbehinderungen kaum Einfluss auf das Geschehen im Lande. Der Ruf Saakaschwilis nach Absetzung des ukrainischen Präsidenten Poroschenko verhallte mehr oder weniger ungehört. Bis zum 5. Dezember sah das nur einer anders, Mischa in der ihm eigenen, notorischen Selbstüberschätzung.

Dann aber sahen plötzlich Staatsanwalt und Geheimdienst in dem selbst ernannten außerparlamentarischen Oppositionsführer Saakaschwili den Staatsfeind Nr. 1, der, wenn nicht den gesamten Staat, dann immerhin das System Poroschenko aus den Angeln heben wollte. Und dies mit Hilfe fragwürdiger Finanzquellen ausgerechnet aus Russland. Ob die Beweise für diese Anschuldigungen – angebliche Mitschnitte von Telefongesprächen Saakaschwilis – nur billiges Konstrukt sind, wie Saakaschwili behauptet, oder nicht, ist schwer zu beurteilen. Zweifel indes sind angebracht, nicht umsonst wurden die ukrainischen Ermittlungsbehörden auch von westlichen Diplomaten in Kiew massiv aufgefordert, in ihrer Tätigkeit höchste Standards für eine transparente und demokratische Justiz einzuhalten. Man werde dies auch im Hinblick auf die von der Ukraine gewünschte Annäherung an EU und NATO sehr genau beobachten, hieß es in Kiew und in einigen europäischen Hauptstädten. Dies auch vor dem Hintergrund, dass sich Strafermittlungsorgane der Ukraine mit Unterstützung der Parlamentsmehrheit Poroschenkos  derzeit einen heftigen Krieg um die Unabhängigkeit der eigens gegründeten Anti-Korruptionsbehörde liefern. Die in der Ukraine anscheinend  allgegenwärtige Korruption, die fröhlich Urständ feiern soll statt ausgemerzt zu werden, ist auch das Thema schlechthin für Mikhail Saakaschwili. Nicht wenige Beobachter aus dem Westen vertraten daher die Ansicht, dass mit der Attacke auf Saakaschwili, der Anti-Korruptionsfront im Lande die rhetorische Speerspitze abgebrochen werden sollte.

Was dann folgte, war – bis zum Urteilsspruch in Sachen U-Haft – eine Anreihung von Peinlichkeiten seitens der Ermittler, die am Ende nur einen Sieger hervor brachte: Saakaschwili. Die erste Großtat: Der Versuch, Saakaschwili am frühen Morgen des 5. Dezember in seiner Wohnung in Kiew zu verhaften. Während die Einsatzkräfte des Geheimdienstes eine gute halbe Stunde brauchten, um die Wohnungstür aufzubrechen, konnte der Delinquent aufs Dach fliehen und von dort lautstark seine Unterstützer aufrufen, ihm zur Hilfe zu eilen. Mit der dramatischen Drohung, sich und jeden, der ihm zu nahe käme, vom Dach in den Tod zu stürzen, hielt er sich die Häscher erst einmal vom Halse und gewann für die seinen genügend Zeit, sich vor dem Haus zusammen zu finden. Das Bild vom Helden auf dem Dach ging – wieder einmal, möchte man sagen, wenn man Saakaschwili seit jetzt über 20 Jahren als Beobachter begleitet –  um die Welt und lenkte deren Aufmerksamkeit wieder auf den Akteur, den sie eigentlich gerade vergessen hatte. Ebenso die Aufnahmen, wie mit erheblicher körperlicher Gewalt erst sein Widerstand gebrochen werden musste, um ihn, den Aufrechten und eigentlich Unbeugsamen, überhaupt in das bereit gestellte Geheimdienst-Fahrzeug zu drücken, ein unscheinbarer Van, kein Fahrzeug, das den notwendigen Sicherheitsstandards einer solchen Staatsaktion entsprochen hätte. Außerdem war das Wohnviertel anscheinend nicht abgesperrt, dass es ein leichtes war für die wenige Hundert Unterstützer, die Straßen aufzureißen und so das Fahrzeug zu blockieren. Die Staatsmacht war machtlos und musste den angeblichen Anführer eines geplanten Staatsstreichs aus dem von dessen Anhängern aufgebrochenen Minibus ziehen lassen. Alles live übertragen von unzähligen TV-Stationen und online-Plattformen, auch nach Georgien, wo Freunde wie Gegner des früheren Staatspräsidenten das Schauspiel verfolgen konnten. Gleich nach der Befreiung dann eine große Rede Mischas auf dem Vorplatz des Parlaments vor vielleicht ein paar Tausend treuen Anhängern, die mittlerweile zusammen gekommen waren. Mischas Appell: Durchhalten bis zu friedlichen Überwindung der korrupten Regierung Poroschenko.

Ein paar Tage Demonstrations-Routine im Zeltcamp folgten mit nur wenigen Besonderheiten. Immerhin: Sandra Roelofs kam aus Tiflis, Saakschwilis Frau, während sich der Meister selbst wegen einer schweren Erkältung zunächst einmal zurück gezogen hatte. Dann der Hammer am Freitag: Der Geheimpolizei war es gelungen, Saakaschwili erneut zu verhaften und in ein Gefängnis einzuliefern, Einzelhaft. Saakaschwili reagierte mit einem unbefristen Hungerstreik, eine Meldung, die sofort durch die online-Medien der Welt ging. Gefasst wurde er ausgerechnet in der Wohnung eines Polizei-Offiziers, aus welchem Grund auch immer sich der anscheinend vertrauensselige Saakaschwili in dieser Wohnung aufgehalten hatte. Am Montag dann die Gerichtsverhandlung zur Haftüberprüfung. Sandra Roelofs hatte vorsorglich die Parole ausgegeben, man rechne am Montag mit der Freilassung. Und die Staatsanwaltschaft hatte vorab schon einen Rückzieher gemacht und angekündigt, lediglich einen zweimonatigen Hausarrest zu fordern, der mit Hilfe elektronischer Fußfesseln überwacht werden könne. So geht man mit einem um, dem man vorwirft, einen Staatsstreich geplant zu haben.

Die Verhandlung fand im kleinsten Gerichtssaal statt, den man in Kiew wohl auftreiben konnte, nicht unbedingt ein gutes Omen. Im Raum drängten sich neben vielen Uniformierten Dutzende Kameraleute und Fotografen und ein paar ukraninische Politiker, unter ihnen Julia Timoschenko, und Sandra Roelofs. Saakschwili musste in der gläsernen Kabine für den Angeklagten, von ihm Aquarium genannt, fast eine Stunde warten, bis die Verhandlung begann. Vor unzähligen Kameras deklamierte er gestenreich über seine Lage und seine Position und sang, sichtlich ergriffen, die ukrainische Nationalhyme, gleich danach – unterstützt von seiner Frau Sandra vor der Glasscheibe – auch die georgische. Wieder Szenen, die das weltweite Netz gierig weiter verbreitete, auch den Scherz Saakaschwilis, vermutlich würde er von der Ukraine als russischer Agent nach Moskau ausgeliefert im Gegengeschäft für die Freilassung von 100 ukrainischen Agenten aus russischer Haft. Einige Berichterstatter machten gar eine ernsthafte Meldung daraus: Mischa als Opfer nämlich international vernetzter Oligarchen und ihrer Dienste.

Dann eine stundenlange Verhandlung zwischen Staatsanwaltschaft, Verteidigung und der Richterin, für die Saakaschwili auf eigenen Antrag immerhin aus dem Aquarium frei gelassen wurde. Er saß neben seinen Anwälten, seiner Frau Sandra und gleich neben Julia Timoschenko, mit der er sich immer wieder angeregt unterhalten konnte. Und dann folgten zwei faustdicke Überraschungen. Die erste: Die Staatsanwaltschaft begründete den Antrag auf Hausarrest damit, dass man Saakaschwili, den man zuvor als Agenten krimineller Moskauer Kreise dargestellt hatte, schützen müsse vor eben diesen Kreisen, denen man zutrauen könne, Saakaschwili liquidieren zu wollen, um einen wichtigen Zeugen auszuschalten. Mehr Agentenlyrik geht kaum, und das von Sicherheitsagenturen eines Staates, der EU-Standards zu entsprechen glaubt. Die zweite Überraschung dann: Die Richterin zeigte sich immun, lehnte alle Anträge der Staatsmacht ab und setze Saakaschwili für die Dauer der Ermittlungen auf freien Fuß. Jubel im überfüllten Gerichtssaal und auf der Straße, wieder einmal verbreitet in der Welt, teilweise sogar in den TV-Nachrichten zur Hauptsendezeit.

Das Ergebnis der peinlichen Show der ukrainischen Staatssicherheits-Organe: Mischas Position als eigentlicher Oppositionsführer im Lande, in dem er sich eigentlich widerrechtlich aufhält, ist vorerst einmal gestärkt. Die Position Poroschenkos und seines Systems ist so fragwürdig geworden wie nie zuvor. Aber die Staatsanwaltschaft hat jetzt genügend Zeit, ihre Vorwürfe mit  hieb- und stichfesten Beweisen zu untermauern, wenn es denn je zu einem Hauptverfahren in Sachen Landesverrat durch einen Staatenlosen kommt. Allerdings: Die Staatsanwaltschaft hat Revision gegen das Urteil eingelegt. Ob die zweite Instanz sich dann auch gegen die Ermittlungsorgane Poroschenkos stellen wird, bleibt abzuwarten. Einer kann sich jedenfalls in aller Ruhe auf seine nächsten Auftritte in der Show vorbereiten, deren Ende kaum abzusehen ist: Mischa, unser aller Titelheld.

Rainer Kaufmann