Nino Haratischwili: Mein sanfter Zwilling

Buchbesprechung von Rainer Kaufmann

Stella, die Ich-Erzählerin in Nino Harataschwilis Roman Mein sanfter Zwilling ist in einer Patchwork-Familie in Hamburg aufgewachsen im Spannungsfeld zwischen Drogenmilieu und Großbürgertum. Mit ihrem Patchwork-Bruder Ivo verbindet sie von früher Kindheit an eine Beziehung, die beide nicht mehr loslässt, bis zur Selbstzerstörung, obwohl sie über Jahre getrennt sind und Stella ihrerseits ein normal-bürgerliches Zuhause mit Mann und Kind gefunden hat. Dann, Jahre später, taucht Ivo plötzlich wieder auf. Und dann kommen Schicht für Schicht die Tragödien zweier zerrütteten Familien zutage mit einem dramatischen Kindheitserlebnis, das Stella und Ivo für den Rest ihres Lebens schicksalhaft zusammenkettet, ohne dass beide den Mut haben, die schreckliche Vergangenheit wirklich aufzuarbeiten und  Dinge, die geschehen sind, beim Namen zu nennen. Das alles spielt in Deutschland. Und nur über eine Recherche des Journalisten Ivo zu einer Parallel-Geschichte in den Kriegswirren Georgiens kommen die beiden der Ursache ihrer zerstörerischen Liebe, die wohl immer auch Selbstliebe war, auf den Grund.

Dass diese Parallel-Geschichte in Georgien spielt, ist genauso willkürlich wie der Ort der Hauptgeschichte, Hamburg und Umgebung. Nino Haratischwili selbst sagt, beide Geschichten hätten überall spielen können. Sie spielen eben dort, wo sie sich persönlich auskennt, wo sie Milieus und Personen präzise schildern und beschreiben kann. Wer also etwa eine literarische Aufarbeitung des ersten Abchasienkrieges erwartet – in dieser Zeit und an diesem Ort spielt die Parallelgeschichte – wird enttäuscht. Darum geht es Nino Haratischwili auch nicht.

Mit einer erstaunlich mächtigen Sprache, einer Sprache, die in jeder Minute der Lektüre fesselt und neugierig macht auf die Personen und die Fortsetzung ihres Teil der Geschichte, schildert Nino Haratischwili das komplizierte Beziehungsgeflecht einer großen, zusammen gewürfelten Familie. Mitten drin Stella und Ivo, die diese Familie zusammengebracht hat und die jetzt, 30 Jahre nach dem Schlüsselerlebnis ihrer Kindheit, diese Familie mit in den Abgrund ihrer selbst-zerstörerischen Liebe treiben.

Es geht immer wieder um die Frage der Schuld, um Fragen des Umgangs der Menschen miteinander, um Vergessen und Verdrängen. In einem schnellen Wechsel an Anekdoten, in rasant wechselnden Schauplätzen, in Rückblenden, in einmal distanzierten und später dann recht intimen Szenen wird Schicht für Schicht der eigentlichen Geschichte freigelegt, einer Beziehung zweier Menschen, die von Anfang an auf das totale Scheitern hinauslaufen musste, ohne dass die beiden selbst Anlass zu diesem Scheitern gegeben hätten. Dazu waren sie, als das Unbeschreibliche passierte, mit sechs Jahren viel zu jung.

Nino Haratischwili Mein sanfter Zwilling, Frankfurter Verlagsanstalt, 380 S., 22,90Euro
ISBN 978-3-627-00175-9