Meine unbekannte Bekannte

Rainer Kaufmann über Nino Haratischwili

Nicht dass ich ein enger Bekannter wäre von Nino Haratischwili, weiss Gott nicht. Wir sind uns nur zweimal begegnet. Das erste Mal im Jahr 1999. Reinhard Leussing, Fachberater der ZfA für DeutschUnterricht an georgischen Schulen stellte mir ein 17-jähriges Mädchen vor, das gerade ein deutsches Theaterstück geschrieben hatte und dieses mit ihrer Schüler-Theatergruppe aufführen wollte. Ein Sponsor für das Plakat wurde gesucht. Der Aufwand war durchaus erschwinglich, das Stück konnte ich mir leider nicht ansehen. Termine. Ein schweres Versäumnis, wie ich heute weiß. Es war das erste Theaterstück, das Frühwerk einer der heute begehrtesten Nachwuchsautorinnen der deutschen Theaterszene.

Das zweite Treffen war dann vor drei Jahren in meiner Heimatstadt Bruchsal. Die Badische Landesbühne hatte eine in Georgien geborene Autorin und Regisseurin angekündigt, die ihr eigenes Stück „Le petit maitre“ inszenieren würde. In der Ankündigung stand auch die Bemerkung, sie habe schon als Schülerin in Tiflis eine Theatergruppe geleitet. Natürlich trafen wir uns zu einem ausgiebigen Plausch in einem Cafe und tauschten die wenigen Erinnerungen, die wir aneinander hatten, aus. Der Intendant der Badischen Landesbühne, Carsten Ramm über Nino Haratischwili: „Das Stück ist eine abwechselnd poetische und extrem direkte Auseinandersetzung mit dem Thema Beziehungen, das mich bereits beim ersten Lesen in den Bann gezogen hat. Wenn Regisseure selbst ihre Stücke inszenieren, kann das heikel sein, doch Nino hatte das bereits mehrfach äußerst erfolgreich getan, und so hatte ich Zutrauen in ihre Arbeit. Und zu Recht: Die Inszenierung arbeitete wie der Text mit ausgesprochen starken, theatralischen Bildern und scheute auch nicht die Darstellung von Extremen. Nino Haratischwili hat einen ganz besonderen Stil und sich somit zu Recht eine Stellung unter den Nachwuchsautoren auf deutschen Bühnen erarbeitet.“

Und jetzt die dritte Begegnung, diesmal ganz ohne sie: Ihr  Roman Mein sanfter Zwilling, der natürlich in der ersten Ausgabe der neuen Kaukasischen Post vorzustellen und zu besprechen war. Grund genug also, dem Phänomen Nino Haratischwili vor Ort mit zwei wirklichen Bekannten, eigentlich Freundinnen, von Nino nachzugehen, Maria Dsebisaschwili, einer Lehrerin der xx. Schule in der Petriaschwili-Straße und Nino Tsketischwili, ihrer Cousine und Schulkameradin.

Das Biografische in aller Kürze: Nino wuchs als junge Schülerin bei ihrer Oma und Tante in Tiflis auf, nachdem ihre Mutter einen Deutschen geheiratet hatte und nach Hannover ausgewandert war. Der Vater war früh gestorben. In der fünften Klasse wechselte Nino nach Deutschland, wo sie zwei Jahre zur Schule ging, kam dann aber zurück nach Georgien. Warum? Sie weiß es selbst nicht, wie sie in einer Schülerbefragung in ihrer ehemaligen Schule vor zwei Jahren erklärte. Irgendetwas habe sie einfach gesucht, nicht wissend, was dieses irgendetwas sein sollte. Familiäre Probleme in Deutschland waren es nicht, was deshalb erwähnenswert ist, weil ihre Werke  gelegentlich autobiografisch interpretiert werden. Nino wuchs in wirklich anderen Verhältnissen auf als denen, die sie beschreibt.

Ihrer damaligen Deutschlehrerin vermachte sie recht schnell ein Heft, das sie mit deutschen Kurzgeschichten voll geschrieben hatte: Das Leben der Fische. Leussing, nebenbei selbst Theatermann, bekam das Heftchen zu lesen und ermunterte Nino, weiter zu schreiben. Denn was er gelesen hatte, konnte kaum von einem Mädchen der 7. Klasse stammen.

1999 brachte Leussing eine Theatergruppe seiner früheren Schule aus Bremen nach Tiflis mit Brechts Kaukasischem Kreidekreis. Leussings Idee, die Nino sofort aufgriff, war, aus einer ihrer vielen Novellen ein eigenes Theaterstück zu schreiben und dieses im Rahmen des Besuchs der deutschen Schultheatergruppe aufzuführen. Innerhalb eines Monats, so meine georgischen Gesprächspartnerinnen, habe Nino das Stück geschrieben, inszeniert, ausgestattet und zur Aufführung gebracht. Der Titel: Das Wohnzimmer. Cousine Nino hat damals mitgespielt. Natürlich stand Monate später der Gegenbesuch in Bremen an, wo die georgischen Schüler Ninos Wohnzimmer aufführten. In Bremen, ihrer ersten Auslandsstation als Theatermacherin, hatte übrigens am 29. Januar diesen Jahres Ninos Stück Drei Sekunden Premiere. Regie: Nino Harataschwili.

Es folgten noch – betreut vom ZfA-Fachberater Jörg Kassner – drei weitere Theaterstücke in Tiflis, wo Nino mittlerweile Film-Regie studierte. Was danach folgte, kann überall nachgelesen werden: Theaterstudium in Hamburg und die erfolgreiche Karriere als Stückeschreiberin, Regisseurin und Romanautorin.

Sie sei eine ganz besondere Schülerin gewesen, sagt Maia, die Lehrerin, die auch heute noch in fast täglichem SMS-Kontakt mit Nino steht, ein Mädchen mit ernsten, tiefen und manchmal traurigen Augen. Mit einem angeborenen Sprachgefühl, in deutsch wie georgisch gleichermaßen kraftvoll, habe sie immer die Tiefe der menschlichen Beziehungen gesucht, Abgründe und drastische Beschreibungen nicht scheuend. Aber auch eine Schülerin, die das das Schulleben mit ständigen Aktivitäten bereicherte, immer rastlos und unternehmungslustig. Die sich bei jeder Geburtstagsparty recht schnell in die Bibliothek ihrerGastgeber verzogen hätte, um in Büchern zu wühlen. Die Schaffenswut hat sich bis heute gehalten, was die enorme Menge an Theaterstücken, Regiearbeiten und Romane nachhaltig beweist.

Beim letzten Besuch in Tiflis hat Nino versprochen, in diesem Jahr endlich einmal zu ihren Freundinnen zu kommen, auszuspannen, faul zu sein und nur zu quatschen. Quatschen über Leeres, über Belangloses, so wie es unter Frauen – besonders in Georgien – üblich sei. Auf dieses Quatschen, das wissen Maia und Nino zu genau, werden sie wohl noch eine Weile warten müssen. Nino ist keine, der Faulenzen wirklich Spaß macht. Und wenn sie in diesem Jahr nach Tiflis kommt, dann steht zuvor die Einladung der Kaukasischen Post für eine gemeinsame Stadtbegehung. Vielleicht wird dann aus der unbekannten Bekannten eine wirkliche Bekannte. Auch für die Leser und Leserinnen dieser Zeitung.