Wahlrechtsreform in Georgien – eine halbherzige Sache

Georgischer Traum blockiert dringend notwendige Korrektur am Wahlsystem

Auf den ersten Blick unterscheidet sich das georgische Wahlrecht kaum vom deutschen. Jeder Wähler hat zwei Stimmen. Mit der einen wählt er einen Abgeordneten in seinem Wahlkreis, der direkt in das Parlament einzieht. Mit der anderen – in Deutschland Zweitstimme genannt – nimmt er an einer landesweiten Verhältniswahl teil und kann zwischen den Listen einzelner Parteien auswählen. Damit hat es sich dann aber mit den demokratischen Gemeinsamkeiten. Denn während in Deutschland die Zusammensetzung des Bundestags dem Verhältnis der Stimmen entspricht, die die Parteien bei den Zweitstimmen, also der Verhältniswahl, erhalten haben, kann in Georgien im Extremfall eine Partei mit nur 35 Prozent der Stimmen in der Verhältniswahl die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament erhalten, vielleicht sogar eine verfassungsändernde Mehrheit. Das georgische Wahlrecht benachteiligt eindeutig die kleineren Parteien und erfüllt keineswegs eine der Grundforderungen eines demokratischen Wahlsystems, nach der jede Stimme schlussendlich den gleichen Einfluss auf die Mehrheitsbildung im Parlament haben muss.

Das georgische Parlament zählt 150 Abgeordnete, 73 von ihnen werden direkt in Wahlkreisen gewählt, 77 Sitze werden den Parteien über landesweite Listen entsprechend ihrer Wahlergebnisse in der Verhältniswahl zugeteilt. In den Direktwahlkreisen galt bisher ein Quorum von 30 Prozent im ersten Wahlgang, das heißt der Bewerber mit den meisten Stimmen war direkt gewählt, wenn er nur die Hürde von 30 Prozent überschritten hatte. Die restlichen 70 Prozent waren verloren. Theoretisch brauchte die führende Partei landesweit in der Verhältniswahl 35 Prozent der Stimmen und zusätzlich in allen Wahlkreisen bei der Direktwahl nur 30 Prozent der Stimmen, um im Parlament eine Anteil von über 66 Prozent der Sitze zu bekommen, mithin die verfassungsändernde Mehrheit. Zu den 73 Direktmandaten, die ihr zustünden, kämen noch 27 Mandate aus der Verhältniswahl, so dass es zu 100 Sitzen und damit zu einer Zweidrittelmehrheit reichen würde, Voraussetzung natürlich, dass in keinem Wahlkreis ein Bewerber einer anderen Partei mehr als 30 Prozent der Stimmen erhielt.

Zum Vergleich das deutsche Wahlrecht. Dort werden, ausgezählt nach Bundesländern, den Parteien jeweils zuerst die Gesamtzahl der Mandate zugeteilt, die ihnen nach dem Verhältniswahlrecht zustehen. Von diesen Mandaten wird dann die Zahl der direkt gewählten Wahlkreisabgeordneten abgezogen und damit die Zahl der Mandate errechnet, die dann über die jeweilige Landesliste der Parteien vergeben werden. Die endgültige Sitzverteilung im Parlament spiegelt demnach immer das Ergebnis der der Verhältniswahl wieder. Damit ist die Zweitstimme in Deutschland die eigentlich entscheidende Stimme, was die Mehrheitsbildung im Bundestag angeht.

Da sich in Georgien die Wahlkreise auch noch sehr stark in ihrer Bevölkerungsgröße unterschieden, war der Grundsatz von der Gleichwertigkeit der Stimmen nie und nimmer gegeben. In Tiflis brauchte ein Direktkandidat ein vielfaches der Stimmen im Vergleich zu seinem Kollegen aus den Bergregionen. Seit der letzten Wahl im Jahr 2012 wird deshalb über eine Reform des Wahlrechts debattiert, schließlich hat auch das Verfassungsgericht die Mängel des georgischen Wahlrechts moniert. Es musste also gehandelt werden.

Statt aber gleich in einem großen Wurf alle Ungerechtigkeiten des Wahlsystems auszumerzen, wie es beispielsweise der Staatspräsident immer wieder vorgeschlagen hatte und auch die nicht im Parlament vertretenen Parteien, hat sich die Parlamentsmehrheit des Georgischen Traums lediglich zu einer halbherzigen Reform durchringen können. Zum einen wurden die Zuschnitte der Wahlkreise geändert und damit die Bevölkerungszahlen, die ein direkt gewählter Abgeordneter repräsentiert, einigermaßen angeglichen. Und zweitens: Im ersten Wahlgang gilt bei den direkt gewählten Abgeordneten ab sofort ein Quorum von 50 Prozent, was in dem einen oder anderen Wahlkreis im Herbst zu einem zweiten Wahlgang um das Direktmandat führen wird. Es ist zu erwarten, dass die endgültige Sitzverteilung im Parlament erst zwei Wochen nach dem ersten Wahlgang fest stehen wird. Und da kann es in diesem Jahr dann doch noch die eine oder andere Überraschung geben.

Wegen dieser nach wie vor bestehenden Ungerechtigkeit im Wahlrecht, das der stärksten Partei über die Direktmandate eindeutig Vorteile verschafft, die ihr eigentlich nicht zustehen, ist der Wert aller derzeitigen Meinungsumfragen nur begrenzt, was die Mehrheitsbildung im Parlament nach den Wahlen angeht. Die heute ganz sicher angeschlagene Regierungskoalition kann sich durchaus einen einigermaßen erfolgreichen Wahlausgang „erträumen“, wenn sie mit der richtigen Strategie und dem einen oder anderen Wahlgeschenk aufwartet. Entscheidend für die Mehrheitsbildung im Parlament ist nach wie vor hauptsächlich die Frage, wer die meisten Direktmandate für sich gewinnen kann. Verständlich, dass die Bereitschaft der Regierung, die Schieflage des Wahlrechts in einem mutigen Reformschritt zu beseitigen, mehr als nur begrenzt war.

Staatspräsident Giorgi Margwelaschwili war mit der beschlossenen Reform keineswegs zufrieden, wenngleich er nicht anders konnte, als das Gesetz zu unterzeichnen und in Kraft zu setzen. Es habe schließlich den Anforderungen des Verfassungsgerichtes entsprochen. Trotzdem kritisierte er die Parlamentsmehrheit mit der Bemerkung: „Das ist keine Wahlrechtsreform, aber unter den gegebenen Umständen ein angemessenes Gesetz.“ Und er fügte hinzu: „Wir haben eine interessante Situation: Es besteht die volle Übereinstimmung zwischen allen politischen Kräften, der Regierung und der Opposition, Nicht-Regierungs-Organisationen wie auch internationalen Organisationen, ein lupenreines Verhältniswahlrecht einzuführen. Warum müssen wir nochmals vier Jahre darauf warten?“ Die Antwort müsste angesichts sinkender Beliebtheit der Regierung eigentlich auch dem Präsidenten klar sein: Parteiinteresse geht vor Staatsraison. Der Georgische Traum wird seine Mehrheit im Parlament nur halten können, wenn er genügend Direktmandate gewinnt. Denn von den 55 Prozent der Stimmen, die sie 2012 in der Verhältniswahl erhielt, kann die Regierungskoalition derzeit nur träumen.