Reisereportage: Die wildesten Pässe des Kaukasus

Im August haben wir eine Foto-Reportage über eine außergewöhnliche Reise gepostet, ein Reise über die wildesten Pässe des Kaukasus. Nachfolgend eine ausführliche Reportage.

Auf genau 2.025 Metern Höhe auf dem Goderzi-Pass, der vom subtropischen Batumi am Schwarzen Meer über den Kleinen Kaukasus in die südgeorgische Stadt Achalziche führt. Im Pass-Restaurant mit dem exotischen Namen „Edelweiß“ schwenkt ein orthodoxer Priester ein Weihrauchfass durch Küche, Restaurant und angeschlossenen Supermarkt. Ein einfacher Tisch dient als Altar, das Christusbild lehnt an der Flasche einer bekannten Mineralwassermarke. Der Pope betet seine Litaneien herunter, er ist mit zwei Ministranten älteren Semesters unter sich, er segnet das gerade unter neuer Leitung eröffnete Restaurant. Die Köchin lässt sich beim Vorbereiten des Abendessens allerdings kaum stören. Keine ungewöhnliche Szene in einem Land, in dem sich die Orthodoxie nach 70 Jahren Kommunismus wieder als die bestimmende gesellschaftliche Kraft versteht.

Der Ort aber macht hier den Unterschied. Wir sind in Adscharien, einer autonomen Republik Georgiens, die deshalb ein wenig anders ist als alle anderen Gebiete des Landes, weil ein großer Teil der Bevölkerung, obwohl georgischer Abstammung, muslimischen Glaubens ist. Ein Erbe der türkischen Besatzung vom 17. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Dann kam die Sowjetunion. Jetzt, 20 Jahre nach dem Ende der UdSSR, aus deren Zeit die Autonomie Adschariens stammt, versucht die Orthodoxie wieder Fuß zu fassen, mit aller Macht. Überall am Goderzi-Pass, wo seit mehr als drei Jahrhunderten Minarette das Landschaftsbild prägten, werden neue orthodoxe Kirchen gebaut. Massentaufen, von lokalen TV-Sendern übertragen, sollen die muslimischen Georgier Adschariens motivieren, zum richtigen Glauben ihrer Nation zurückzufinden.

Ein paar Kilometer neben der Passhöhe treffen sich im dichten Nebel zur gleichen Zeit vor einem ungleich größeren Holzgebäude als dem „Edelweiß“ etwa vier oder fünf Dutzend Menschen. Sie tauschen Süßigkeiten aus, die von den Frauen herumgereicht werden. Kühe und Schafe, in ihren Nebel-Umrissen nur zu erahnen, umrahmen das Fest, zu dem jeder eingeladen ist, der in dieser eigentlich gottverlassenen Gegend zufällig des Weges kommt. Muslimische Adscharen, die hier oben zu Tausenden zusammen mit Zehntausenden an Tieren der subtropischen Schwüle Adschariens entfliehend zur Sommerweide heraufgezogen sind, weihen ihr neues Gebetshaus ein. Noch sind sie hier in der Mehrheit, aber, während der orthodoxe Pope in seinem Lada Niva mehr oder weniger unbeachtet  am muslimischen  Gebetshaus und der Festgemeinde vorbeifährt, prophezeit unser georgischer Fahrer mit einem leichten Schulterzucken: „In zehn Jahren werden sie alle zur Orthodoxie zurückgekehrt sein.“ Göttliche Schöpfungsordnung auf georgisch.

Eine Reise über die wildesten Pässen des Kaukasus ist nicht nur eine Reise in die vielleicht letzten unberührten Hochgebirgsregionen am Rande Europas. Sie ist auch eine Reise in die abwechslungsreiche Geschichte des Kaukasus mit allen politisch-historischen Verwerfungen. So etwa beim Besuch eines Erdhügelhauses auf der Dschawacheti-Hochebene, die früher von den Mess`cheten bewohnt war, einem Turkvolk, das Stalin vertrieben hatte. Die wenigen Mess`cheten, die in der Gegend von Krasnodar überlebt haben, wollen wieder zurück in ihre angestammte Heimat. Doch dort sind sie alles andere als willkommen. In diese Gegend des Kleinen Kaukasus hat die Sowjetmacht seit Jahrzehnten immer wieder Menschen aus Dörfern angesiedelt, die im Großen Kaukasus nach einem Lawinenabgang unbewohnbar geworden waren. Für die früheren Bewohner ist da kaum noch Platz.

Ein zweiter Abstecher in die politisch-historischen Wirren dieser Region führt in das Pankisi-Tal im Osten des Landes, wo seit Hunderten von Jahren die Kisten wohnen, ein tschetschenischer Volksstamm, der in Folge der Tschetschenien-Kriege des letzten Jahrzehnts ein paar tausend Flüchtlinge aus Grosny hat aufnehmen müssen. Vor genau zehn Jahren war das Tal deshalb zum Hotspot des Internationalen Terrorismus hoch gebeamt worden. „Bin Laden im Pankisital“ lauteten weltweit die Schlagzeilen. Heute leben die Kisten mit den mittlerweile in Georgien eingebürgerten Flüchtlingen aus Tschetschenien und Georgiern friedlich, schiedlich miteinander. Den Weltflüchtlingstag begehen Georgier, Tschetschenen und Kisten im Pankisi gemeinsam, singend und tanzend, das einstige Tal des Terrors entpuppt sich fast als eine Insel der Glückseligkeit. Das UN-Flüchtlingskommissariat hat in den letzten Jahren ganze Arbeit geleistet.

Über dreizehn Schotterpässe im Großen und Kleinen Kaukasus führt diese vielleicht außergewöhnlichste Reise, die man derzeit in Georgien in zwei Wochen unternehmen kann. Die Wege vor allem sind die Ziele, die Passhöhen die Zwischenstopps, Asphalt wird vermieden so oft es nur geht. Und das geht erstaunlich oft….

Übernachtet wird vornehmlich in kleinen privaten Gästehäusern in den meist abgeschiedenen Tälern. Zum Beispiel in Schatili, einem mittelalterlichen Wehrdorf in der Argunschlucht hinter dem Chachmati-Pass und dicht an der russischen Grenze, die hier die Grenze zur tschetschenischen Republik ist. In einem gut erhaltenen Turm der zum Teil verfallenen Wehrburg Schatili betreiben Wascha und seine Frau Schorena ein kleines Sommer-Hotel von Mitte Juni bis etwa Oktober. Wascha ist Soldat bei der georgischen Grenzpolizei und in der Argunschlucht stationiert, aus der er stammt. Das Hotel hat vier Stockwerke, 15 Betten, im Erdgeschoss zwei Duschen und Toiletten, gegessen wird auf der Veranda, gekocht wird im Hinterhaus. In einem weiteren Turm ist noch ein Hotel, sprich Gästehaus. Der Rest der Anlage soll irgendwann von der georgischen Regierung renoviert werden. Die privaten „Hoteliers“ von Schatili befürchten das Schlimmste.

Ein kleiner Abstecher führt von hier nach Mutso an der tschetschenischen Grenze und nach Ardoti, von wo der gleichnamige Pass nach Tuschetien führt und damit nach Daghestan in der Russischen Föderation, allerdings nur zu Fuß oder per Pferd begehbar. Dazwischen, zwischen Schatili und Mutso, finden sich drei oder vier kleine Steinhäuser, Sterbehäuser aus dem Mittelalter, in denen schwerkranke Menschen ausgegliedert wurden, ausgeliefert zum Sterben. Durch die kleinen, mit Eisen vergitterten Fenster kann man menschliche Skelette erkennen. Der Hospiz-Gedanke in seiner Urform.

In nahezu allen Regionen, die auf dieser Reise angefahren werden, bieten private Gästehäuser nicht unbedingt allen Komfort, den der Gast aus Europa gewohnt ist, dafür aber eine herzliche Gastfreundschaft und eine Nähe, die das besondere Erlebnis dieser Reise ausmachen. Im Pankisital singt abends ein nicht gerade jugendlich zu nennender Frauenchor im Wohnzimmer der Unterkunft von Frau Magwala, einer Patriarchin im Kistental. Chorgesang, der Gänsehaut erzeugt. In Radscha führt der Hausherr selbst, Levan heißt er, ein Automechaniker, seine Gäste abends durch alle traditionellen Trinksprüche Georgiens, die kein Ende nehmen wollen. Am Morgen überprüft er Ölstand und Kühlung der Autos, bevor er eine gute Reise wünscht. Und in Swanetien, der wildesten und gleichzeitig beliebtesten Region des Großen Kaukasus, wird in Uschguli, das sich das höchste Dorf Europas nennt, zum Frühstück ein Kalb geschlachtet. Wohl dem, der an einem Feiertag dort oben aufwacht, er kann sich um ein Kalbsschaschlik mit Raki, dem rustikalen swanetischen Gerstenschnaps, nicht herumdrücken. Er will es auch nicht. Zum Frühstück, wohlgemerkt. Tradition ist eben Tradition. Und in Mestia, der swanetischen „Metropole“, wartet Emsar Muschgudiani, unter Schewardnadse noch Chef der georgischen Grenzpolizei, am Ortsrand gleich neben dem neuen Flughafen mit einem schönen Gästehaus samt neu aufgebauter Forellenzucht.

Dazu die vielen unerwarteten Begegnungen auf der Strecke: Aserische Wanderhirten aus dem  georgischen Alasanital, die in kleinen Zeltdörfern zu fünf Familien jeweils auf die Sommerweiden des Kleinen Kaukasus gezogen sind. Die Weideflächen gehören seit Jahrhunderten ihren Dörfern, Lambalo und Keshalo heißen sie. Keine armen Leute, diese Schäfer-Dynastien. Wo denn all diese Zigtausende von Schafen und Rindern vermarktet werden, die wir links und rechts der wilden Pässe im Kleinen Kaukasus sehen, wollen wir wissen, Georgien kann diese Unmengen an Fleisch niemals aufnehmen. Die Antwort geben uns aserbaidschanische Viehtransporteure: Iran und die Türkei sind die Hauptabnehmer, kaukasisches Fleisch sei dort besonders geschätzt, der Qualität wegen. Die Tiere werden wohl lebend über die Grenzen gebracht.

Die aserbaidschanischen Tier-Transport-Fahrer, vier LKW`s an der Zahl, treffen wir bei ihrer Vesperpause ausgerechnet an einer abgelegenen armenischen Kirche am Burnaseti-Pass, mithin keine 300 km-Luftlinie entfernt von Berg-Karabach, jener armenisch besiedelten Provinz auf dem Staatsgebiet von Aserbaidschan, die politisch-militärisch immer wieder von sich reden macht. Aber das interessiert jetzt und hier vor der armenischen Kirche im Kleinen Kaukasus von Georgien keinen der aserbaidschanischen Truck-Fahrer, die jeweils ein paar Dutzend georgisch-aserische Rinder zum Tabazkuri-See bringen, die in wenigen Sommer-Wochen eine vertraglich zugesicherte Gewichtszunahme zu bringen haben, damit sie im Iran oder der Türkei vermarktet werden können. Was hat angeblich geo-strategische Politik mit dem seit Jahrhunderten eingeschliffenen kleinen und großen Grenzhandel zu tun?

Natürlich werden die ausländischen Gäste, der hier zu Recht nie und nimmer vermutet werden, eingeladen. Und wieder gibt es Schnaps. Um die Mittagszeit. Nur der Fahrer erhält Dispenz, obwohl die aserbaidschanischen LKW-Piloten, die sich hier auskennen, anmerken, dass auf diesen Pisten alles anzutreffen sei, nur keine Polizei.

Diese Reise ist ein Härtetest für Material und Menschen. 2.400 km Schotterpässe an dreizehn Tagen, der höchste Pass, der Abanopass in Ostgeorgien, führt fast bis auf 3.000 m Höhe. Dahinter eine Landschaft, Berg-Tuschetien (Mta-Tusheti), die es an Lieblichkeit jederzeit mit den schönsten Ecken des Allgäu aufnehmen kann. Mit einem Unterschied: Tuschetien ist alles andere als überlaufen, die Anreise über den Abano-Pass aus dem Alasanital in Ostgeorgien dauert bei gutem Wetter mindestens sechs Stunden, bei Dauerregen ist der etwa 70 km lange Pass auch für starke Allrader eigentlich nicht passierbar. Es kann durchaus vorkommen, dass man dort oben zwei oder drei Tage fest sitzt, bevor man Tuschetien über den höchsten Pass des Kaukasus wieder verlassen kann. Aber Tuschetien mausert sich, in Omalo und den Dörfern rings herum putzen sich ein Dutzend kleine Gästehäuser heraus. Die Zielgruppe: Wander- und Pferdetouristen. Die tuschetischen Bergpferde sind besonders geduldige Vertreter ihrer Gattung und leicht handhabbar auch für ungeübte Reiter. Tuschetien ist nur im Sommer bewohnt, wie viele Hochgebirgsregionen im Kaukasus, im Winter sind die Dörfer verlassen, die Pässe gesperrt. Die Tuscheten wurden vor rund 100 Jahren bereits ins Alasanital umgesiedelt.

Anders Swanetien, die Hochgebirgsregion im Osten Georgiens, auch an Russland angrenzend, direkt südlich des Elbrus. Swanetien ist ganzjährig bewohnt, eine einzigartige, archaische Kulturlandschaft mit unzähligen Wehrdörfern, die an die griechische Halbinsel Mani und an San Gimigniano in der Toskana erinnern. Nur in Swanetien gibt es Hunderte dieser steinernen Zeugen mittelalterlicher Wehrhaftigkeit.

Die direkte Zufahrt vom Schwarzen Meer über Sugdidi und den Enguri-Staudamm ist mittlerweile bis Mestia, der Hauptstadt Swanetiens, geteert, seit einem Jahr erst. Fünf Stunden sind es jetzt noch für rund 140 Kilometer. Aber die Anfahrt aus Radscha, der Nachbarprovinz am Kaukasus-Hauptkamm, über die Provinzstadt Lentechi und den Zagar-Pass nach Uschguli hat es in sich. Die wildeste, die anspruchsvollste Piste dieser Reise, nach tagelangem Landregen eigentlich kaum zu bewältigen, denn dann ist der Fluss plötzlich die Straße. Und trotzdem, der Pass ist stark frequentiert. Wir treffen Mountainbiker aus dem Baltikum, aus Polen oder Skandinavien, wie wir überall im Großen Kaukasus viele Wandergruppen aus Polen, Tschechien und Israel angetroffen haben. Der Kaukasus als Reiseziel für Individuallisten ist im Kommen.

Swanetien – eine einzigartige Kombination aus Landschaft, Natur und Kultur, eine Zeitreise, der Höhepunkt einer jeden Reise durch Georgien. Unzählige kleine Kirchen im Monopoly-Quader-Format. Uschguli oder Adischi, ein anderes Dorf auf über 2.200 Metern Höhe, zählen jeweils fünf bis sieben oder acht Kirchen, kaum eine mehr als zehn bis 20 Quadratmeter groß, aber ausgestattet mit Fresken und Ikonen, wie man sie nirgendwo zu sehen bekommt. Niemals, so sagen die Swanen, habe ein fremder Herrscher ihr Gebiet, das freie Swanetien, betreten. Noch nicht einmal die Direktoren der Staatlichen Museen von Georgien schaffen es, in dem einen oder anderen Dorf den unschätzbaren lokalen Ikonenschatz für ihre zentralen Museen zu akquirieren. Uschguli und Adischi geben ihre Ikonen nicht her.

Und in Iprali, einem kleinen Weiler auf mehr als 2.000 Metern Höhe über dem Meeresspiegel gelegen, wacht der alte Bauer Utscha in seinem stattlichen Gehöft ebenfalls über eine kleine Familienkirche, auch ein Kleinod, was die Freskenmalerei betrifft. Das große Bauernhaus hat der 80-jährige in den letzten Jahren zu einem respektablen Gästehaus umgebaut mit zwölf Fremdenzimmern und einem schönen Speisesaal. Vor fünf Jahren noch Plumpsklo irgendwo im Hof, heute drei moderne und saubere Etagenduschen mit Toiletten. Utschas Haus liegt an der ausgeschilderten Wanderstrecke von Mestia nach Uschguli. Und es liegt wenige Kilometer oberhalb der Schotterpiste zwischen Zagar-Pass und Uigir-Pass. Sechs Töchter hat Utscha, vier sind in Tbilissi verheiratet. Aber zwei treiben mit ihm und seiner Frau jeden Sommer dieses Gästehaus um, das einen unweigerlich an Südtirol vor 50 Jahren erinnert. Nur war Südtirol damals schon nicht mehr annähernd so ursprünglich wie heute Iprali, wie Swanetien, wie der Große und der Kleine Kaukasus in Georgien.

Text und Fotos: Rainer Kaufmann