Georgien im Tunnel-Blick

Bemerkenswerter Dokumentarfilm aus einem Seitental Georgiens
Corona sei auch einmal Dank. Denn um einen neuen georgischen Dokumentarfilm anzuschauen, muss man nicht extra zur Premiere beim Festival DOK.fest nach München fahren, das eigentlich vom 6. bis 27. Mai stattfinden sollte, jetzt aber nur online angeboten wird. Es handelt sich um den 90-minütigen Dokumentarfilm „A TUNNEL“ der georgischen Regisseure Nino Orjonikidse und Vano Arsenishvili. Die Originalfassung ist georgisch, kein Text, nur Originaltöne mit englischen Untertiteln. Um es vorwegzunehmen: Man braucht als Zuschauer schon viel Geduld, die teilweise endlos langen, sich immer wiederholenden, aber meist traumhaft schön gedrehten und dann auch interessant montierten Beobachtungen anzuschauen. Aber die Geduld wird am Ende belohnt. Belohnt mit einem wirklich unverfälschten Einblick in die Lebenswirklichkeit vieler Georgier, die abseits der großen Metropolen leben. Und in die Folgen eines von den Regierenden immer wieder hochgelobten internationalen Infrastruktur-Projekts in Georgien, der Erneuerung der Eisenbahnlinie von Chaschuri durch das Charagauli-Tal nach Sestaphoni, einer der logistischen Flaschenhälse im weltweiten Projekt „One Road – One Belt“, das von der chinesischen Regierung gesponsert und damit im Hintergrund auch gesteuert wird.

Um auch das vorwegzunehmen: Kaum jemand, der Georgien bereist, ob Ausländer oder Georgier, macht sich die Mühe, auf der Ost-West-Achse den Rikoti-Pass zu umgehen und über die Strecke Surami – Charagauli nach Sestaphoni zu gelangen, ein mehr als nur mühsames Unterfangen. Nicht nur wegen der Dauerbaustelle Eisenbahn, auch wegen der Topographie und der teilweise mehr als nur dürftigen Straßenverhältnisse. Rund zwei bis drei Stunden zusätzlicher Fahrzeit muss man schon einkalkulieren und dann hat man heutzutage rechts und links der Piste nicht viel mehr gesehen als Tunnel-Löcher und eine aufgewühlte Landschaft.

Aufgewühlt sind auch die Menschen, die dort wohnen. In der Ankündigung dieses Filmes heißt es: „Die georgischen Dorfbewohner sind verunsichert: Keiner weiß, ob es vielleicht das eigene Haus ist, das der neuen chinesischen Seidenstraße weichen muss. Die neue Bahnstrecke weckt Hoffnungen auf Wachstum. Doch die Bedingungen auf der Baustelle sind miserabel, die Sprengungen für den Tunnel durch den Berg lassen Hänge und Felder abrutschen. In ruhigen Einstellungen und klar komponierten Bildern beobachtet A TUNNEL die Konfrontation von globalem Megaprojekt mit dem Stillstand in der Bergbevölkerung.“

Mittelpunkt der Reportage ist der Bahnhof des kleinen Dorfes Moliti, vor Jahren noch eine Bahnstation, die den Duft der Sowjetzeit verströmte und deshalb eigentlich verdient gehabt hätte, unter Denkmalschutz gestellt zu werden. Mittlerweile rauschen hier aber neben den neuen Personenzügen der Strecke Tiflis-Batumi täglich mehrere nahezu endlose Zugpaare mit Öl-Tankwagen durch. Sie bringen Rohöl aus Baku nach Poti, die Trasse ist mehr als ausgelastet. Wenn irgendwann einmal noch der Zusatzverkehr zum geplanten Tiefseehafen Anaklia dazu kommt, muss die Leistungsfähigkeit der Strecke zweifellos angepasst werden. Dass dies vor allem auf Kosten der dortigen Bevölkerung geht, die von der geplanten Transport-Achse China-Europa nun kaum einen Vorteil haben wird, das ist die Botschaft des Films. Und das heute schon, da sie unter Bedingungen zu arbeiten hat, die einfach nicht zumutbar sind. Was mit ihren Grundstücken, Häusern und Feldern geschieht, mit ihren Dorfgemeinschaften, lässt sich nur erahnen. Die Dokumentation erlaubt dem Betrachter einen unverstellten Einblick in die Situation und vor allem erlaubt sie ihm, sich eine eigene Meinung zu bilden. Sie zeigt die unmenschlichen Unterkünfte der chinesischen Fremdarbeiter ebenso wie die Streiks der Georgier, verbunden mit teilweise handfesten Streitereien mit Chinesen. Sie zeigt auch die mehr als nur bemühten Versuche der georgischen Regierungsvertreter oder lokaler Autoritäten, die aufgebrachte Bevölkerung vom Sinn dieses Mammut-Projektes zu überzeugen. Und ganz nebenbei zeigt sie Menschen in der georgischen Provinz und ihren Alltag völlig unverfälscht. Dabei muss man sich nur wundern, wie es die Dokumentarfilmer immer wieder geschafft haben, mitten im Geschehen zu sein und es filmisch zu dokumentieren.

A TUNNEL – eine bemerkenswerte dokumentarische Arbeit, der man nur eines wünschen kann: eine weltweite Verbreitung. Ie Dokumentation ist übrigens bereits für mehrere Filmpreise nominiert. Sie wird für den Ticketpreis von 4,50 Euro angeboten auf: www.dokfest-muenchen.de.

                   Rainer Kaufmann

Die Fotos zeigen eine der vielenTunnel-Baustellen im Tal vor einem Jahr und zwei ältere Fotos vom Bahnhof Moliti. Die Leitstelle des Durchgangsbahnhofs für Personen- und Güterzüge atmete damals noch den Geist der Sowjetzeit. In der Zwischenzeit wurde die Anlage allerdings modernisiert…