Familien- und Weltgeschichte als Nummernrevue

Nino Haratischwilis „Das achte Leben“ im Hamburger Thalia-Theater
Die Bedenken vor dem Besuch des Hamburger Thalia-Theaters sind kaum zu unterdrücken: Ist es wirklich möglich, eine Familiensaga wie die von Nino Haratischwili, niedergeschrieben auf gewaltigen 1.280 Seiten, glaubwürdig und für den Zuschauer nachvollziehbar auf die Bühne zu bringen? Fünf Minuten nach Mitternacht und nach fünf Stunden Aufführung – inklusive einer 30-minütigen Pause – steht das Urteil: Ohne jeden Zweifel, ja. Das eigentlich Unmögliche ist möglich geworden. Ein unglaublich intensiver Theaterabend, geprägt natürlich vom überragenden Stoff der Buch-Vorlage. Geprägt aber auch von theatralischen und schauspielerischen Glanzleistungen, im einzelnen wie im Ensemble – Buch, Dramaturgie und Regie selbstredend eingeschlossen.

Vor drei Jahren überraschte die deutsch-sprachige Schriftstellerin Nino Haratischwili, geboren im Jahr 1983 in Tiflis, mit ihrem Buch: „Das achte Leben (Für Brilka)“ die Literaturszene in Deutschland. In diesem epochalen Geschlechter-Roman schildert sie das Sechs-Generationen-Schicksal der georgischen Familie Jaschi von der Zarenzeit über die Oktoberrevolution, den Stalin-Terror, den 2. Weltkrieg, über das Ende der Sowjetunion mit all den Auflösungserscheinungen bis hin zum Jahr 2005, als Brilka, die zwölfjährige  Ur-Urenkeling des Familien-Oberhauptes Stasia, sich bei einer Theatertournee in Europa von ihrer Truppe entfernt und nicht mehr zurück will ins postsowjetische Chaos Georgiens. Sie sitzt im belgischen Mechelen und soll von ihrer Tante Niza, die in Berlin lebt, nach Tiflis zurück verfrachtet werden. Und Niza erzählt ihrer Nichte dann die gesamte Familiengeschichte von den Töchtern eines Schokoladenfabrikanten, Stasia und Christine, von Stasias Kindern Kostja und Kitty – der eine Revolutionär, Kriegsheld und späterer Partei-Funktionär, die andere heimlich aus dem Land geschafft, da ihr ein Todesurteil drohte wegen Landesverrats. In London machte sie als Musikerin Karriere. Die nächsten Generationen: Elene, Niza und Daria, die Mutter von Brilka. Dazu die Geschichte der Familie Eristawi, die drauf und dran war, in die Jaschi-Sippe einzuheiraten. Lebensläufe in allen Irrungen, die erzählt werden, für Brilka. Schicksale von 22 Personen, dargestellt von einem neunköpfigen Ensemble. Eine Mammutaufgabe für die drei Frauen, die sich vorgenommen hatten, aus Haratischwilis Material eine Bühnenfassung herauszufiltern.

Sie – die Regisseurin Jette Steckel mit ihren Dramaturginnen Emilia Heinrich und Julia Lochte – lösten ihre Aufgabe mit einem gleichermaßen genialen wie einfachen Theater-Kniff, einer Art Nummern-Revue nämlich mit allerhand Spielarten: gespielten Szenen, Slapstick-, Gesangs- und Tanzeinlagen – solo oder im Ensemble – und dem einen oder anderen Monolog. Fast alle im Laufe der Geschichte neu Geborenen zum Beispiel stellen sich und die Umstände ihrer Geburt selbst vor mit einem solchen Monolog, vorgetragen im Kleinkinderjargon. Herrlich witzig. Und auf den Hintergrund der Drehbühne –  ein überdimensionierter Teppich, der von einer ebensolchen Rolle von oben herabgelassen wird, eigentlich ein Raumteiler der Drehbühne, – auf diesen Hintergrund werden zu einem Großteil der Szenen dokumentarisches Filmmaterial aus der jeweiligen Zeit projiziert. So entsteht eine intensive Gesamtschau von theatralischen und dokumentarischen Impressionen aus mehr als 100 Jahren Familien- und Weltgeschichte, die einen vor allem vor der Pause von Minute zu Minute mehr und mehr in ihren Bann zieht. Von wegen Müdigkeit oder Gefahr, einem Nickerchen anheimzufallen. Nach der Pause allerdings hat man gelegentlich den Wunsch, das Stück würde sein Ende etwas schneller finden können. Aber diese Kritik kann man auch am Buch von Haratischwili üben. Es hätten auch da einige Seiten weniger getan.

Sie selbst beschreibt ihr Buch so: „Ich verdanke diese Zeilen einem Jahrhundert, das alle betrogen und hintergangen hat, alle die, die hofften. Ich verdanke diese Zeilen einem lange anhaltenden Verrat, der sich wie ein Fluch über meine Familie gelegt hatte.“ Eine Familie, in der jeder alles war, Opfer und Täter in einer Person. Bis auf Brilka, aber die hat ja ihr Leben noch vor sich….

In dieser Spielzeit ist das Stück noch drei Mal zu sehen: am 28. und 29. Juni und am 7. Juli. Beginn jeweils 19.00 Uhr, Ende etwa um Mitternacht. In der nächsten Spielzeit wird das Stück erneut aufgenommen, es gibt also noch jede Menge an Terminen für einen Theater-Tripp nach Hamburg. Er lohnt auf alle Fälle schon gar für Leute, die eventuell Nino Haratischwili kennen oder ihr Buch gelesen haben oder ihr etwa in einer Lesung zugehört haben. Und wer es noch nicht gelesen hat, so haben einige der Zuschauer auf Nachfrage in der Pause erklärt, der will das jetzt unbedingt nachholen.