Kontinuität mit Dauerfolgen

Georgien verabschiedet sich vom Traum des politischen Pluralismus
Eine Analyse zum vorläufigen Ausgang der Parlamentswahlen
Von Rainer Kaufmann

Georgien hat gewählt. Und es hat zunächst einmal die Kontinuität gewählt. Beruhigend für viele im In- wie im Ausland, denn die mit einem Regierungswechsel hierzulande traditionell verbundenen Erdbeben in allen Bereichen der staatlichen Verwaltung bleiben damit aus. Der Staatsapparat kann unbehelligt weiter arbeiten, wie effektiv auch immer er das in den letzten vier Jahren getan haben mag. Weiter so, das ist ohne Frage eine der Botschaften vom 8. Oktober. Ob es auch gut so ist, wird sich erst noch zeigen. Die Regierungspartei wird beweisen müssen, ob sie die zweite Chance, die ihr jetzt gegeben wurde, besser zu nutzen versteht als die erste.

Die andere Botschaft, die Gegenseite der Medaille: Georgien hat das Risiko gescheut, seine Demokratie und Gesellschaft weiter in Richtung Pluralismus zu entwickeln. Das wird viel tiefer greifende Folgen zeitigen, als jetzt kurz nach der Entscheidung vermutet werden darf. Die Wählerinnen und Wählern dafür verantwortlich zu machen, wäre fatal. Es liegt einzig an der politischen Elite, an den Parteien und ihren Führungen, dass sie nicht attraktiv genug waren, die Zementierung eines Zweiparteien-Systems, das sich vorerst wohl fest zu etablieren scheint, zu stoppen. Und das auch noch mit der alles beherrschenden Dominanz eines Lagers.

Nicht dass die Bilanz des Georgischen Traums der letzten vier Jahre überzeugend gewesen wäre. Vor allem in der Wirtschaft, auf dem Sektor Beschäftigung, klafft eine Riesen-Lücke zwischen den Versprechungen des letzten Wahlkampfes und der Realität. Bidsina Iwanischwili selbst, der große Regisseur im Hintergrund der Regierung, hat eingestanden, dass die 60.000 neuen Arbeitsplätze, die in vier Jahren geschaffen wurden, viel zu wenig sind, 600.000 hätten es sein müssen. Viele Menschen seien heute noch genauso arm wie vor vier Jahren unter der alten Regierung. Sein Konzept, „seinen“ Regierungschef mit einer in die Zukunft gerichteten Frohbotschaft nach der anderen durch die Lande ziehen zu lassen, ging nur deshalb auf, weil er in seinem persönlichen Schatten-Wahlkampf das Gespenst von neun Jahren UNM-Herrschaft unter Saakaschwili an die Wand malte. Wohl wissend, dass nicht alles schlecht war, was seit der so genannten Rosen-Revolution in Georgien geschah. Aber, außer dem harten Kern der Mischa-Wähler galt für alle anderen wohl die Devise: Alles außer UNM. Und außer UNM hieß für die meisten nur Wahlverweigerung oder die Regierung vom Georgischen Traum. Fast die Hälfte der georgischen Staatsbürger hat am 8. Oktober der Politik den Rücken gekehrt. Die Regierung hat gerade einmal ein Viertel der Wählerschaft zur Stimmabgabe für sie motivieren können. Überzeugende Siege sehen anders aus. Für die Zukunft muss das nicht unbedingt Gutes verheißen.

Die Opposition, die Vereinte Nationale Bewegung, hat ihre Wahlchancen bereits kurz nach den letzten Wahlen vor vier Jahren eingebüßt. Damals hat man es versäumt, einen Schlussstrich zu ziehen unter die Zeit Saakaschwilis und sich als erneuerte Wirtschafts-Partei westlichen Zuschnitts zu präsentieren. Mehr noch, man erlaubte dem Demagogen in Odessa in den letzten Wochen des Wahlkampfes sogar, den Auftritt der Partei mit seinen alten Hass-Tiraden gegen Iwanischwili zu dominieren und mit seinen völlig überzogenen Siegesparolen. Es ist erstaunlich, dass gerade ein früherer Vertrauter des inhaftierten Ex-Innenministers Wano Merabischwili nach den Wahlen erklärte, die UNM sei zu Beginn des Wahlkampfes inhaltlich und personell gut aufgestellt gewesen, hätte aber ihren Erfolg mit dem Eingreifen Mischas in die Wahlkampagne selbst infrage gestellt.

Alle anderen Parteien, vor allem die vom rechtsstaatlich-liberal orientierten Lager – die Freien Demokraten und die Republikaner – haben sich das Desaster selbst zuzuschreiben. Wenn die politischen Eliten nicht in der Lage sind, aus gemeinsamen Grundüberzeugungen auch funktionierende, gemeinsame Wahl-Bündnisse oder gar größere Parteien mit besserer Schlagkraft zu schmieden, werden sie nie die Aufmerksamkeit der Wählerschaft erringen. Das gilt gleichermaßen für all die vielen Splittergruppierungen auf der Linken oder im außenpolitisch eher neutral orientierten Lager. Viele Beobachter im westlichen Ausland interpretieren  den Wahlausgang als eine grundsätzliche Bestätigung des Euro-Atlantischen Kurses Georgiens, eine Analyse, die kaum die Lage trifft. Das Thema NATO/EU und/oder Russland/Neutralität fand im Wahlkampf überhaupt nicht statt, mangels politischer Masse und Klasse derer, die vielleicht anders denken. Bei einer Wahlenthaltung von 50 Prozent darf dieser Teil des politischen Spektrums nicht abgeschrieben werden, schon gar nicht, wenn die zweite Regierungsperiode des Georgischen Traums wirtschaftspolitisch ebenso erfolglos verläuft wie die erste.

Egal, ob die Regierung schlussendlich noch eine Mehrheit bekommt, mit der sie die Verfassung ändern kann, oder nicht. Ihre Machtfülle ist mehr als nur komfortabel, sie im Parlament wirksam zu kontrollieren, erscheint nahezu hoffnungslos. Da wird in den nächsten vier Jahren der Nicht-Regierungs-Sektor, die Zivilgesellschaft, besonders gefordert sein. Insbesondere auch deshalb, weil sich jetzt schon andeutet, dass wesentliche Infrastruktur-Entscheidungen künftig in Milliarden Dollar schweren Institutionen gefällt werden, den privaten Investment-Fonds Bidsina Iwanischwilis, die sich jedweder parlamentarischen Kontrolle entziehen. Auch die Regierung wird da kaum ein Wörtchen mitzureden haben. Sie wird abnicken und vollziehen.

Einen Rückzieher in Sachen Verfassungsänderungen hat Premierminister Kwirikaschwili bereits vollzogen. Die am Wahlabend voreilig angekündigten Verfassungsänderungen in Sachen Präsidentenwahl und Parlamentssitz sollen jetzt erst einmal in einer breit aufgestellten Verfassungs-Kommission beraten werden. Trotzdem kämpft Kwirikaschwili in den Stichwahlen der Direktwahlkreise um die ganz große Mehrheit von 113 Sitzen. Man brauche, so sein neues Demokratie-Verständnis, die verfassungsändernde Mehrheit, um die politischen Ziele des georgischen Traums umsetzen zu können. In Brüssel zum Beispiel, wo man eine offene Zusammenarbeit mit der demokratisch legitimierten georgische Regierung versprochen hat, wird man in den nächsten Jahren wohl etwas genauer hinsehen müssen, wie diese mit ihrem Mandat im parlamentarischen Alltag umgeht.

Treppenwitz am Rande der Geschichte: Ausgerechnet Sandra Roloefs, die Frau von Ex-Präsident Saakaschwili, kann mit ihrer Kandidatur im Direktwahlkreis Sugdidi-Land der Regierung den Traum von der verfassungsändernden Mehrheit vermasseln. Holt sie in der Stichwahl das Mandat – sie liegt nur ein Prozent hinter dem Bewerber des Traums – , dann darf sich die Regierung nur noch den Verlust von einem weiteren Wahlkreis leisten. Dabei hatte Saakaschwili nach dem ersten Wahlgang alle UNM-Kandidaten aufgefordert, nicht mehr zur Stichwahl anzutreten. Die Partei hat sich aber nach einer breiten Diskussion in ihren Führungsgremien und einer offenen Abstimmung mehrheitlich diesem Rat widersetzt. Ein erster Anfang, sich vom großen Meister im Exil abzunabeln? Ein erster Ansatz innerparteilicher Demokratie? Ein Beispiel virlleicht für andere Parteien….