Die Hälfte der Georgier hat der Politik den Rücken gekehrt

Kommentar zu den Parlamentswahlen von Rainer Kaufmann

Egal, wer sich nach den unterschiedlichen Prognosen zum Wahlausgang als Sieger fühlen darf, ein Verlierer dieser Wahl steht jetzt schon fest: die georgische Politik und damit auch die Demokratie. Denn die Wahlbeteiligung ist von 60,8 Prozent im Jahr 2012 auf 51,6 Prozent gefallen. Das heißt im Klartext: Fast die Hälfte der georgischen Wählerinnen und Wähler hat der Politik die kalte Schulter gezeigt. Sicher, ein Teil der in den Wählerlisten registrierten Wahlberechtigten lebt derzeit nicht am registrierten Wohnort. Das gilt für die Arbeitsmigranten im Ausland ebenso für viele Georgier, die in den Städten leben und arbeiten, aber noch immer in ihrem Heimatdorf behördlich gemeldet sind. Die Möglichkeit der Briefwahl gibt es nicht. Aber das war vor vier Jahren nicht viel anders als heute.

Der Rückgang von neun Prozent Wahlbeteiligung müsste von allen – Siegern wie Verlierern – als deutliches Warnsignal begriffen werden. Eine Festigung der Demokratie im Lande und ihrer Institutionen kann daraus kaum abgeleitet werden. Eher eine gewisse Politik-Müdigkeit, die sich allenthalben ausbreitet. Die Schuld müssen sich nicht nur die beiden großen Blöcke zuschreiben. Alle anderen Parteien waren nicht in der Lage, das Vakuum, das Georgischer Traum und UNM in ihrer Dauerfeindschaft hinterließen, mit attraktiven, überzeugenden Angeboten und Personen zu füllen. Chance vertan für die kleinen Parteien, möglicherweise für immer. Denn diese Wahl dürfte ein Zweiparteien-System zementiert haben, in dem man zur Stunde nicht einmal eine 2/3-Mehrheit für den Sieger ausschließen kann. Und das, obwohl er höchstens 30 Prozent der Wählerschaft hat mobilisieren können. Ob da noch die eine oder andere Partei ein paar Mandate erringen kann, spielt jetzt schon kaum noch eine Rolle.

Ein zweites wäre jetzt schon anzumerken. Die Exit-Polls, also die Nach-Wahlumfragen, die zu ersten „Hochrechnungen“ schon wenige Minuten nach Schließung der Wahllokale führten und damit zu ersten, TV-inszenierten, Siegesfeiern, sind mehr als fragwürdig. In der einen werden dem Georgischen Traum 53,8 Prozent prognostiziert, in der anderen nur 39,9. Die UNM erhielt in der ersten Umfrage 19,5 Prozent, in der zweiten 32,7. Seriös erscheint zum jetzigen Zeitpunkt keine von beiden, hinter beiden Umfragen darf man getrost das Interesse der jeweiligen Auftraggeber vermuten. Die Wahlnachfrage, die der Regierung das Traumergebnis von 53,8 Prozent prognostiziert, basiert auf nur 967 Befragten im ganzen Land. Da ist noch jede Menge professionellen oder wissenschaftlichen Spielraums in Sachen Demoskopie zu entdecken.

Es wird mindestens einen Tag dauern, bis die Wahlkommission die tatsächlichen Zahlen ausgezählt hat und belastbare Ergebnisse veröffentlichen kann. Überraschungen sind nicht ausgeschlossen. Und dann kommt ja noch der zweite Wahlgang bei den Direktmandaten. Vor Ende Oktober, möglicherweise sogar Anfang November, wird es keine zuverlässige Information über die Zusammensetzung des Parlaments geben. Auch darüber sollten alle intensiv nachdenken, die heute Nacht feiern oder Trauer tragen. Vier Wochen jubeln oder klagen, mag TV-Talkshows füllen und das Ego ihrer Protagonisten befördern. Die Wählerinnen und Wähler, so ist befürchten, werden sich weiter von der Politik abwenden. Nach der Wahl ist vor der Wahl.