Jugendstrafrecht ist immer ein Aufreger

Prof. Dr. jur. Helga Oberloskamp: Kritische Bilanz nach fünf Monaten in Georgien

Helga Oberloskamp ist eine emeritierte Professorin für Familien- und Jugendrecht der Fachhochschule Köln, die jetzt im Auftrag des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst) fünf Monate an der TSU in Tiflis ebendiese Fächer unterrichtet hat. In deutscher und englischer Sprache, wobei sie weitaus mehr englisch sprechende Studierende hatte als Studierende mit Deutschkenntnissen. „Deutsches Recht für georgische Ohren in einer anglo-amerikanischen Sprache zu vermitteln, war schon ein Problem. Wir haben viel aneinander vorbeigeredet.“ Im KaPost-Gespräch hat sie dann wohl eine weitere Sprache gefunden, um richtig verstanden zu werden. Die Professorin sprach meist Tacheles und schonte – bei allem Verständnis für die Situation in Georgien – weder Politik, noch Universitäten, Studierende und ihre Familien.

Zum Beispiel war da das Thema Jugendstrafrecht. „Überall, wo ich bisher war, zum Beispiel im letzten Jahr in Sibirien, war Jugendstrafrecht ein Aufreger.“ In Sibirien hätte man sie überhaupt nicht verstanden, in Georgien arbeite man immerhin an einem modernen Jugendstrafrecht, das durchaus europäischen Standards, meist deutsch-österreichischen, entspräche. Das Grundproblem: Während in Deutschland nur etwa 20 Prozent der straffälligen Jugendlichen mit Freiheitsentzug bestraft würden, ist es andernorts gerade umgekehrt. 80 Prozent der jugendlichen Gesetzesbrecher werden eingesperrt. Das deutsche Jugendstrafrecht sieht weitaus mehr ambulante Sanktionen vor wie Antiaggressionskurse oder Sozialstunden. Denn bei ambulant sanktionierten Jugendstraftätern ist die Rückfallquote weitaus geringer als bei Freiheitsentzug. „Junge Leute wegsperren, hilft überhaupt nichts.“ Das soll jetzt auch im georgischen Recht verankert werden, ein Fortschritt, ganz gewiss. Nur: Für ambulante Sanktionen braucht man Sozialarbeiter – ein Beruf, der einen hohen Ausbildungsgrad erfordert. Und man braucht Institutionen, in denen die verordnete Sozialarbeit etwa abgeleistet werden kann. In Deutschland sind das die Jugendämter und freie Träger von Sozialarbeit. Trotz vielfältiger Recherchen habe sie in Georgien keine Ansätze gefunden, diese Infrastruktur an Personal und Institutionen, aufzubauen, die es braucht, um das Gesetz auch umzusetzen. Zu den Sozialwissenschaftlern zu gehen, um dort nachzufragen, hätten ihr die Juristenkollegen abgeraten. Da gäbe es keine Ansätze in dieser Richtung. „Was nutzt es, theoretische Sozialwissenschaft zu lehren, wenn keine Praxis-bezogene Berufsausbildung damit einhergeht?“

Den Einwand, Sozialarbeiter würden wohl zu viel Geld kosten, das der Staat derzeit nicht habe, kontert die lebenserfahrene Jugendrechtlerin ganz einfach: Knastanstalten kosten auch Geld und zwar mehr als eine gute Sozialbetreuung von jugendlichen Straftätern, die ja oft nur durch ihr soziales Umfeld und die Lebensumstände zu Straftätern wurden. Ob das in Georgien verstanden wird, wo man im neuen Jugendstrafrecht wohl nur zwei Agenturen auf Ministerialebene mit dieser Aufgabe betrauen will, sie hat da ihre Zweifel.

Zweifel hat Helga Oberloskamp auch am Ausbildungssystem der Universitäten. Ihre Erfahrungen mit den Studierenden sprechen nicht unbedingt für die Qualität der immer wieder und von allen gelobten Hochschulausbildung im Lande. Viele der Studenten würden die Vorlesungen nur absitzen, weil Anwesenheitspflicht besteht. Es sei überaus schwierig gewesen, von kleinen Arbeitsgruppen klar strukturierte Protokolle der Vorlesungen zu bekommen, was sie zur Pflicht gemacht hat. Viele Studenten hätten nicht auf eine einzige Frage von ihr eine Antwort gegeben. „Das habe ich in all meinen Berufsjahren noch nie erlebt.“ Und Fallbeispiele durchzusprechen, wie es an deutschen Universitäten gang und gäbe ist, um einen Praxisbezug in der Ausbildung herzustellen, sei geradezu verpönt gewesen. Die überwiegende Anzahl der Studenten seien nur an theoretischem Material interessiert, eigenes Nachdenken – Fehlanzeige. „Wie wollen die denn lernen, mit ihrem Wissen in der späteren Berufspraxis als Juristen umzugehen?“ Helga Oberloskamp kann ihre Ratlosigkeit nicht verbergen.

Dann die Prüfung. Handies einsammeln, wie in Deutschland, habe sie gleich gar nicht in Erwägung gezogen. Und einige schwerere Aufgaben wie die Lösung von Einzelfällen und hier besonders die Interpretation von unbestimmten Rechtsbegriffen wie „Kindeswohlgefährdung“, „angemessen“, „notwendig“ – in deutschen Klausuren die Regel – hätte sie auch nicht aufgenommen. Nur Fragen, die sich auf den in den Vorlesungen behandelten Stoff bezogen und sich durch Auswendiglernen beantworten ließen. Trotzdem: in einem Raum mit ca. 100 Personen ein Lärmpegel, den sie so bei Prüfungen noch nie erlebt habe. Die dreistündige Kommunikation unter den Prüflingen lies durch nichts unterbinden. Nahezu alle hätten voneinander abgeschrieben, komplette wortgleiche Arbeiten in Serie. Die Prüfung hat sie dann nicht korrigiert und annullieren lassen. Die Klausur wurde – mit weniger Fragen, da die Studenten anscheinend zeitlich überfordert waren – wiederholt mit exakt den gleichen Inhalten. Ergebnis: immer noch eine Durchfallquote von 30 Prozent. Die Reaktion der Durchgefallenen: Heftige Proteste, die sie selbst in stundenlangen Sprechstunden nicht besänftigen konnte. Aber: „Wenn die geforderte Leistung nicht erbracht wird, liegt das dann an mir?“ Nur begrenztes Verständnis auch in der Kollegenschaft, denn der Marktwert auch staatlicher Universitäten hängt eng mit der Erfolgsquote bei Prüfungen zusammen. Bei privaten Universitäten, so argwöhnt sie, sei das – systembedingt – noch viel bedeutender….

Den gewaltigen Niveauunterschied zwischen deutschen und georgischen Hochschulen lastet sie auch dem Niveau des georgischen Schulsystems an. So lange Lehrer mittelmäßig bezahlt werden und dies durch privaten Nachhilfeunterricht ausgleichen müssen, so lange könne man von den Studierenden keine besonderen Eigenleistungen erwarten. „Man wird hier lernen müssen, dass Freiheit auch bedeutet, Verantwortung zu übernehmen, etwas auf die eigene Schulter zu laden. Und das schon in der Universitätsausbildung. Ich habe den Eindruck, man studiert hier nur für das Zertifikat, nicht für das eigene Leben. Ein eigenverantwortlicher Einsatz mit dem Ziel fachlicher Souveränität ist eigentlich nicht vorgesehen.“ Einen Wahnsinn nennt sie das. Die Eltern peitschen ihre Kinder – oft unter großen finanziellen Entbehrungen – durchs Studium und denken, mit einem Hochschulabschluss wäre das Leben dann abgesichert. Dabei fehle in dem Land – siehe Bewährungshelfer und Sozialarbeiter – und noch viel mehr im technisch-handwerklichen Bereich, in dem nicht jeder studiert haben muss, der berufliche Mittelbau. Da sieht die Hochschulprofessorin den meisten Nachholbedarf.

Wie gesagt, Helga Oberloskamp kann neben Deutsch und Englisch auch Tacheles, eine ganz besondere Fremdsprache. Ob ihre Kolleginnen und Kollegen der Hochschule von dieser Kritik begeistert sind? Die Antwort ist knapp: „Kritik muss man aushalten können!“ Und dann zum Schluss noch versöhnlichere Töne: „Georgien ist ein grandioses, ein begnadetes Land. Leider machen die Menschen viel zu wenig daraus.“ Die Juristin weiß, wovon sie spricht. In ihrer Hochschulzeit hat sie viele Jahre eine Dreiländer-Kooperation zwischen Deutschland, Polen und Litauen auf dem Gebiet der Justizreformen geleitet. Und nachdem sie 2008 in den Ruhestand gegangen war, hat sie in verschiedenen Projekten vor allem in den Staaten des früheren Ostblocks gearbeitet. Helga Oberloskamp kann Vergleiche zu anderen Ländern anstellen.