Climbing the Ararat

Den Berg des Schweigens besteigen   

Seit dem ersten Weltkrieg und mit dem Aufkommen des Kalten Krieges waren die Grenzen zwischen Armenien und der Türkei fast ununterbrochen geschlossen. Mit dem Fall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Armeniens schien sich ein kleines Fenster für eine Annäherung der beiden Nachbarstaaten zu öffnen; der Krieg Armeniens mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach verhinderte diese Aussicht jedoch endgültig. Seither blieben trotz vielfältiger diplomatischer Bemühungen die Grenzen geschlossen und es herrschte offizielles Schweigen zwischen Armeniern und Türken.

Eine Änderung der Situation scheint hoffnungslos. Die Entwicklungen im Nahen Osten ziehen die gesamte Aufmerksamkeit westlicher Akteure sowie der türkischen Außenpolitik auf sich, und die Beziehungen zum Nachbarn Armenien bzw. zur Nachbarregion Südkaukasus treten in den Hintergrund. Mit dem nach wie vor ungelösten Karabachkonflikt und den anstehenden Wahlen in Armenien 2013 sowie der Türkei 2014 und 2015 stehen die Zeichen für eine Annäherung sogar noch schlechter. Umso mehr, als Armenien im Gedenkjahr 2015 ihre Bestrebungen für eine internationale Anerkennung der Ereignisse von 1915 als Genozid noch intensivieren und damit den Gegnern einer Aussöhnung Wasser auf die Mühlen gießen wird.

Mit Blick auf die kommenden schwierigen Jahre ist deshalb gerade der individuelle Austausch zwischen Armenien und der Türkei besonders wichtig und muss mit aller Kraft fortgeführt werden. Der Dialog „Climbing the Mountain“ mit Fethiye Çetin, einer türkischen Autorin und Menschenrechtsaktivistin, und Arsinée Khanjian, einer armenischen Schauspielerin und Filmemacherin, ist ein solches Beispiel. Die Auftaktveranstaltung in Berlin hat zum Ziel, einen anhaltenden, sichtbaren und vielschichtigen Dialog zwischen den beiden Gesellschaften fördern und die mühsame Besteigung des Berges Schritt für Schritt voranzuführen.

Die Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit setzt sich im Rahmen ihrer Projekte seit vielen Jahren für einen Dialog und friedlichen Ausgleich zwischen Menschen und Gesellschaften ein. Der armenisch-türkische Dialog ist Teil eines regionalen Friedensdialogs im Südkaukasus, der zum Ziel hat, den Diskurs über Bedingungen für Freiheit, Frieden und Entwicklung in der Region zu fördern.

Begonnen hat die Stiftung für die Freiheit mit einem politischen Dialog zwischen Partnern aus Armenien und der Türkei. Mit der Veranstaltung „Climbing the Mountain“ wagt sie sich nun mit der Unterstützung von Civilitas und Anadolu Kültür in die künstlerisch-literarische Begegnung mit diesem komplexen und schwierigen Thema vor. Die literarische Auseinandersetzung mit dem Thema der Aussöhnung zwischen Armeniern und Türken ist besonders fruchtbar, da sich die Kunst Aspekten wie Identität, Tradition, Kultur und Schmerz auf eine individuelle Weise stellen kann, wie ein rational-politischer Dialog es nicht zu tun vermag. Denn letztendlich basiert dieser Ansatz auf dem freien und persönlichen Ausdruck des Einzelnen und nicht auf kollektiven Stereotypen oder gar nationalen Interessen.

Einen Berg zu besteigen erfordert viel Kraft, Geduld und Zähigkeit. Und der Ararat, so wird gesagt, überrascht selbst den erfahrenen Bergwanderer mit seinen Launen und Gewittern. Deshalb ist es mehr als statthaft, den Dialog zwischen Armeniern und Türken mit der Besteigung eines Berges, vielleicht sogar des Ararats, zu vergleichen.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung zitierte in ihrem Artikel „Schwarze Löcher in der Türkei“ vom 6. November 2011 einen Beobachter mit den folgenden Worten: „Plötzlich tauchten überall in der Türkei diese ‚armenischen Großmütter’ auf und bevölkerten die schwarzen Löcher der Erinnerung.“ In diesem Dialog kann es aber nicht nur um die Endeckung der eigenen Familiengeschichte gehen. Vielmehr geht es um die Entdeckung der vielschichtigen und komplexen Geschichte der verschiedenen Völker, die jahrhunderte lang im Guten wie im Bösen gemeinsam auf dem Boden der heutigen Türkei gelebt, geliebt und auch gelitten haben. Es geht um die Anerkennung eines Platzes in dieser Geschichte, die nicht nur Böses und Leid, sondern auch viel Licht und Gutes gebracht hat. Diese Geschichte gilt es aufzudecken, und das nicht nur von Familien mit armenischen, sondern auch mit kurdischen, zazakischen, lasischen, arabischen, tscherkessischen, aramäischen, griechischen, jüdischen und besonders auch türkischen Großmüttern.

Die Erfahrung zeigt, dass alle Bemühungen für eine Annäherung ohne Einsicht in die Tiefe und Komplexität des Gegenstands sowie die Bereitschaft zur Annahme neuer Sichtweisen letztlich zum Scheitern verurteilt sind. Gegner des Dialogs gibt es genügende auf beiden Seiten und die Gründe für eine Ablehnung sind vielfältig. Deshalb ist ein offener und authentischer Austausch essentiell für das gegenseitige Verständnis und eine langfristige Annäherung. Bei dieser gemeinsamen Besteigung ist mehr als nur Toleranz notwendig. Da es bei der eigentlichen Bedeutung von ‚tolerare’ mehr um das Dulden des Anderen, des Fremden geht. Auf dieser Reise benötigen die Wanderer aber vor allem den Mut, sich in die Haut des anderen denken zu können. Auch müssen sie die Kraft haben, sich von kollektiven Stereotypen und Vorbehalten zu befreien.

Fethiye Çetin und Arsinée Khanjan verkörpern diesen Ansatz in einer einzigartigen Offenheit und Authentizität. Beide Frauen hatten den Mut, sich auf eine gemeinsame persönliche Reise zu begeben und dem Gespräch mit der „anderen Seite“ zu stellen, ohne dabei anbiedernd oder harmoniesüchtig zu wirken. Dies verlangt unseren Respekt und unsere Unterstützung.

Yasemin Pamuk
Leiterin der Subregion Südkaukasus
Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit

Das Bild zeigt (v.l.n.r.) Salpi Ghazarian, Direktorin von Civilitas Foundation, Armenien; Arsinée Khanjian, armenische Schauspielerin und Filmemacherin, Fethiye Çetin, türkische Autorin und Menschenrechtsaktivistin